Gezeichnet - Buchumschlag

Gezeichnet

Tori R. Hayes

Kapitel sechs: Das Alpha-Gen

War ich in meinem Bett? Ich lag bequem, aber ein helles Licht hinderte mich daran, die Augen zu öffnen und selbst nachzusehen.

Dann spürte ich, dass jemand neben mir saß. "Mom?", fragte ich.

Aber eine männliche Stimme antwortete mir. "Hoffentlich nicht."

Nein. Ich kannte diese Stimme. Diese Stimme war gestern ziemlich unhöflich zu mir gewesen.

"Wie?" Ich öffnete meine Augen und sah Shay an meinem Bett sitzen. Ich setzte mich auf und zog die Decke enger an meinen Körper. "Was machst du denn hier?", rief ich.

Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. "Was denkst du, warum ich hier bin?" Er lächelte und kam näher.

Mein Herz begann unkontrolliert schnell zu schlagen. Er war so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spüren konnte. Ich hatte mich bereits so weit wie möglich an das Kopfteil gepresst. Weiter zurück konnte ich nicht.

Mein ganzer Körper war angespannt, und ich schloss die Augen aus Angst vor dem, was als Nächstes passieren würde.

Er schob seinen Kopf an meinem Gesicht vorbei und vergrub seine Nase in meinem Nacken. Dann nahm er einen tiefen Atemzug.

Was zum Teufel! Ich stieß ihn weg. "Was glaubst du, was du da tust!?", rief ich.

Er lächelte und wich zurück. "Wie ich sehe, hat die Verwandlung deine Haare in ihre ursprüngliche Farbe zurückverwandelt", sagte er.

Die Verwandlung? Meine Locken hingen über meine Schultern, sodass ich sie deutlich sehen konnte. Sie waren wieder weiß.

Dann war alles wieder da. Archer, der weiße Wolf, der geheimnisvolle Mann. Shay! Er war der schwarze Wolf?

"Du bist wach?", hörte ich eine Stimme an der Tür sagen. Mom. "Danke, dass du sie sicher hierher zurückgebracht hast, Shay."

"Kein Problem", antwortete er mit einem engelsgleichen Lächeln. Es war zwar so falsch wie die Pflanze in meinem Fenster, aber meine Mutter schien ihn nicht zu durchschauen. Sie erwiderte das Lächeln einfach.

"Kann ich einen Moment mit ihr allein sein?", fragte sie.

"Sicher", antwortete er und warf einen letzten Blick auf mich zurück. Ein letztes Mal berührte er meinen Oberschenkel auf dem Laken, und es hinterließ ein brennendes Gefühl. Ein Gefühl, von dem ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte.

Als er meinen Gesichtsausdruck sah, lächelte er selbstsicher, bevor er hinter der Tür verschwand.

"Liebling, geht es dir gut?" Meine Mutter kam näher.

"Mom? Was ist gestern wirklich passiert?", fragte ich. "Du weißt doch etwas. Du hast es gestern Abend gesagt." Sie nickte, und ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Magen bildete. Sie hatte Geheimnisse vor mir gehabt.

"Rieka, ich muss dir etwas sagen. Etwas, das ich dir schon lange hätte sagen sollen, aber ich dachte, wir hätten es unter Kontrolle. Ich hätte nicht gedacht, dass es jemals so weit kommen würde." Sie sah verzweifelt, aber ernst aus.

"Du musst mir versprechen, dass du dir jedes Wort anhörst, das ich sage, bevor du anfängst, Fragen zu stellen."

"Ich glaube nicht, dass du es noch schlechter machen kannst, als es ohnehin schon ist.", schnaubte ich.

"Versprich es mir, Rieka." Sie meinte es todernst. Mein Lächeln verschwand, und ich nickte.

Sie holte tief Luft, bevor sie begann.

"Wir sind nicht allein auf dieser Welt. Wir Menschen. Wir leben Seite an Seite mit den mythischen Kreaturen, von denen man sonst nur in Geschichten hört. Du trägst etwas in dir ..." Sie hielt inne. " ...genauso wie ich, das Gen des Schattenwolfs."

Ich traute meinen Ohren kaum. Mom auch?

"Als ich geboren wurde, war mein Vater der Anführer unseres Rudels. Der Alpha. Ich war ein Einzelkind und das einzige, das in seine Fußstapfen trat.

"Aber ich verliebte mich in deinen Vater, einen Menschen, und konnte deshalb nie Alpha sein. Da ich mit dir schwanger war, legte ich mein Amt und meinen Platz im Rudel nieder.

"Das Rudel hatte keinen Erben, also machte mein Vater einen Deal mit seinem besten Freund. Dass sein Sohn der nächste Alpha nach ihm sein würde, wenn er bereit war. Dieses Kind war Shay."

Deshalb verhielten sich alle in der Stadt so zurückhaltend in seiner Nähe. Als ob er eine Art Autoritätsperson wäre. Deswegen hatte er sich so augespielt, als ich diese Autorität in Frage stellte. Er war der Alpha dieses Rudels. Dieser Stadt.

"An dieser Stelle musst du mir genau zuhören, Rieka." Ich hatte so viele Fragen, aber ich hatte versprochen, zu warten.

"Jeder Mensch mit dem Werwolf-Gen wird in der Nacht des Vollmonds geboren. Um das Gen zu aktivieren, muss das Baby unter dem Licht dieses Vollmonds geboren werden.

"Wir haben versucht, es ins Krankenhaus zu schaffen, in eine geschlossene Abteilung, aber das Auto hatte eine Panne, und du wolltest offensichtlich nicht auf den Krankenwagen warten. Du wurdest so geboren, wie wir es vermeiden wollten."

Ich konnte nicht warten, bis sie zu Ende gesprochen hatte. "Aber warum habe ich mich erst jetzt verwandelt?"

"Dazu werde ich noch kommen, Rieka." Sie seufzte.

"Werwölfe sind nicht bereit, sich in ihre Wölfe zu verwandeln, bevor ihr Körper dafür entwickelt ist. Normalerweise ist das an ihrem sechzehnten Geburtstag der Fall.

"Um die Verwandlung zu aktivieren, müssen wir noch einmal im Licht des Mondes baden." Sie hielt inne.

"Früher traf sich das Rudel einmal im Monat bei Vollmond. Wenn ein Kind für die Verwandlung bereit war, feierten wir und lösten seine Verwandlung unter dem Mond aus.

"Innerhalb von drei Tagen war die Verwandlung abgeschlossen, und sie konnten sich in ihren Wolf verwandeln."

Sie sah mich an. "Deshalb haben wir versucht, dich vom Mondlicht fernzuhalten."

"Aber warum habt ihr das auch schon vor meinem sechzehnten Geburtstag getan?"

Sie seufzte erneut.

"Du wurdest unter dem Licht eines Supermonds geboren. Nur Wölfe mit dem Alpha-Gen, oder dem Potenzial, ein Alpha zu sein, werden während eines Supermonds geboren. Dieses Gen ist unberechenbar, und wir wollten nichts riskieren."

"Und was ist mit meinen Haaren?", fragte ich. "Hat das etwas mit dem Supermond zu tun?"

Sie lächelte. "Deine Farbe ist sehr selten. Die Farbe unserer Haare ist ein Spiegelbild unserer Seele.

"Dein weißes Haar bedeutet, dass du so rein bist wie die Farbe selbst. Es ist sehr selten und sehr mächtig. Wir waren sehr stolz, als du geboren wurdest", sagte sie und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

Dann sah sie zu Boden. "Ich verstehe nur nicht, wie du deine Verwandlung aktivieren konntest. Du warst doch nie dem Licht des Mondes ausgesetzt." Ich spürte, wie mich eine Welle von Schuldgefühlen überflutete.

"Mom ...? Ich glaube, ich weiß, warum …" Ich zögerte.

"Was?"

"Erinnerst du dich an den Tag meines achtzehnten Geburtstags?" Sie nickte. "Ich habe mich rausgeschlichen ... um Archer und Everly zu treffen." Ihre Augen weiteten sich.

"Was hast du dir nur dabei gedacht, Rieka? Es gab doch einen Grund für diese Regeln!" Wollte sie mir jetzt etwa die Schuld für all das geben?

"Woher sollte ich das denn wissen?! Ihr habt mich einfach eingesperrt, fern von allem Spaß, ohne mir jemals einen richtigen Grund zu nennen!"

"Wir sind deine Eltern, junge Dame. Du sollst auf uns hören und tun, was wir sagen, ohne Fragen zu stellen."

"Oh ja, so wie du es getan hast. Ich vermute, dass deine Eltern deine Beziehung zu Dad nicht gerade gutgeheißen haben." Sie wurde still, und ich hörte auf zu schreien.

"Es ist ja nicht so, dass ihr mich ewig hättet einsperren können", murmelte ich.

"Dein Vater ist genau der Grund, warum wir gehofft hatten, dass du dich vielleicht nie verwandeln würdest." Ich schaute sie wieder an.

"Was? Was ist denn so schlimm daran, ein Werwolf zu sein?", fragte ich.

"Ich kenne das Leben eines Menschen und ich kenne das Leben eines Werwolfs, und das Leben eines Menschen ist ohne Verpflichtungen." Sie gluckste, bevor sie fortfuhr.

"Sicher, das Leben eines Wolfes besteht darin, eins mit der Natur zu sein. Geschärfte Sinne und das Gefühl des Windes in deinem Fell, wenn du auf vier Beinen stehst. Sich immer von seinen Instinkten leiten zu lassen."

Und dann sah sie mich an.

"Aber diese Instinkte sind es auch, die es unerträglich machen, ein Wolf zu sein. Einem Rudel anzugehören ist eine große Verantwortung. Es ist wie eine Familie, nur viel größer, und du bist für jeden einzelnen von ihnen verantwortlich.

"Nicht nur als Alpha, sondern als Mitglied des Rudels."

"Und wenn ich in keinem Rudel sein will?", fragte ich.

Sie seufzte. "Das ist noch schlimmer, Rieka. Manche Menschen wissen von unserer Existenz."

"Wie Dad?", fragte ich.

"Nein, nicht wie Dad. Dein Vater versteht, dass wir keine Bedrohung sind, aber diese Menschen ... Diese Menschen jagen unsere Art. 'Chasseur de Loups', Jäger der Wölfe. Wie wir sind sie überall. Versteckt."

Dann nahm meine Mutter meine Hände in ihre.

"Jetzt, wo du die Verwandlung durchgemacht hast, hast du das Recht, alles zu erfahren. Wir haben eine Abmachung mit den Jägern aus unserer Gegend getroffen. Wenn wir sie nicht belästigen, belästigen sie uns auch nicht.

"Es gibt Teile des Waldes, in denen du dich nicht aufhalten darfst, Rieka, und ich möchte, dass du das verstehst. Manche Gebiete teilen wir uns, wie die Schule und den Supermarkt, und dort leben wir in Frieden miteinander."

Ich nickte.

Wenn ich leben wollte, gab es bestimmte Gebiete, von denen ich mich fernhalten sollte.

Dann wurde es mir klar. Ich hatte Archer gestern Abend mit einer Armbrust gesehen. Könnte er ... Nein ... Das würde er nicht tun.

"Mom?", fragte ich.

"Ja, Schatz?"

"Woher wissen wir, ob wir es mit einem Jäger zu tun haben?"

"Jeder Jäger wurde markiert. Sie haben eine Tätowierung auf der linken Schulter, bestehend aus drei schwarzen Wirbeln", erklärte sie.

Archer war nicht der Typ, der einfach so sein Hemd auszog. Ich wusste also nicht, ob er das Zeichen hatte. "Ich habe Archer erst gestern gesehen ..." Sie unterbrach mich.

"Ach ja, Archer. Das ist eine der schlimmsten und besten Seiten des Werwolfseins." Ich sah sie verwirrt an. Der schlimmste Teil? Schlimmer als die Jäger?

"Als Werwolf hat der Mond einen Partner für dich ausgewählt. Einen Liebhaber. Einen Gefährten. Es gibt auch einen für dich. Es gab ihn schon immer, aber das Band ist nun besiegelt. Archer ist kein Werwolf und kann nicht dein Gefährte sein."

"Was?", fragte ich. "Wie kann das einfach so entschieden werden? Wie kann ich das nicht selbst entscheiden dürfen? Was ist mit dir und Dad?"

"Dein Vater und ich sind ein besonderer Fall. Ich hatte meinen Partner gefunden, aber wir haben uns nach einiger Zeit darauf geeinigt, dass es das Richtige ist, die Bindung zu lösen. Das ist der einzige Weg, und ich hatte Glück."

"Ist das wirklich möglich?", fragte ich.

"Ja, aber es ist sehr selten, und beide Partner müssen zustimmen und das Trennungsritual durchführen. Wenn du deinen Partner gefunden hast, wirst du verstehen, wie schwierig das ist."

Eine weitere Frage ging mir durch den Kopf. "Woher weiß ich es? Woher weiß ich, wer mein Partner ist?"

Sie lächelte.

"Die meisten Werwölfe wissen es sofort, aber du trägst das Alpha-Gen in dir. Wir haben mehr Kontrolle über unsere Gefühle, über unsere Lust. Du wirst es wissen, wenn du nah genug dran bist, aber das kann eine Weile dauern."

Shay betrat den Raum. "Mrs. Cooper, darf ich Ihre Tochter für eine Minute entführen?"

Ich sah meine Mutter flehend an, sie möge bleiben, aber sie ignorierte mich.

"Rieka, da Shay der Alpha des Rudels ist, wird er dir beibringen, wie man ein Werwolf wird."

Ich traute meinen Ohren nicht. "Kannst du das nicht tun?", fragte ich.

"Ich habe meinen Wolf achtzehn Jahre lang unterdrückt. Ich habe mich vom Mondlicht ferngehalten. Ich habe nicht mehr die gleiche Kontrolle. Du brauchst jemanden, der weiß, wie es ist, das Alpha-Gen zu haben. Um es zu kontrollieren."

Dann ging sie ohne ein weiteres Wort hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb mit Shay zurück. Alleine, in meinem Zimmer.

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