E. R. Knight
KARA
Sherlock ist Leben, dachte sie, als sie die dritte Episode auf ihrem Computer anfing.
Als sie von nebenan Megans leises Schnarchen gehört hatte, war sie ins Zimmer geschlichen und hatte sich ihren Pyjama, der auf dem Fußboden gelegen hatte, geschnappt.
Jetzt, in einer bequemen, grauen Yogahose und einem Shirt von der University of Minnesota schlürfte sie eine heiße Schokolade.
Sie hatte einen Schuss Baileys reingetan und fühlte sich jetzt schön warm und behaglich, die Füße in eine dicke Sofadecke gewickelt.
Nach all den emotionalen Ereignissen der letzten zwei Tage freute sie sich auf einen friedlichen Abend.
Unter dem Berg an Decken vibrierte irgendwo ihr Handy. Sie tauchte danach und entsperrte es.
Und so viel zu einem schönen, friedlichen Abend.
Karas Augen füllten sich mit Tränen, die sie wütend wegwischte.
Lass dich nicht von diesem Arsch zum Weinen bringen.
Er ist es nicht wert.
Doch die Tränen flossen einfach weiter in heißen Strömen über ihre Wangen.
Wie hatte sie jemals denken können, dass Max ihr Prinz sei?
Sie war so eine Idiotin.
Verloren saß sie auf dem Sofa. Alle Gedanken an Sherlock und einen entspannten Abend waren verflogen.
Sollte sie Max antworten? Was sollte sie sagen?
Kara starrte auf die grausamen Nachrichten und überlegte, was sie machen sollte.
Vom Flur her hörte sie die Wohnungstür auf- und zugehen.
Adam musste von seinem nächtlichen Ausflug, wohin auch immer, zurück sein.
Panisch stellte sie sich vor, wie sie gerade aussehen musste. Ihr Gesicht war vom Weinen geschwollen und sie trug eine schlabbrige, graue Hose.
Adam sah stets aus wie ein griechischer Gott.
Sie war gerade nicht in der Stimmung, sich seine Scheißkommentare anzuhören.
Kara wischte sich wieder die Tränen weg, schnappte sich ihren Laptop und ihr Handy und ließ die heiße Schokolade auf dem Wohnzimmertisch stehen.
Ihr Plan war, Adam komplett zu ignorieren und geradewegs in ihr Zimmer zu gehen.
Sie würde die Episode Sherlock unter ihrer Decke mit Kopfhörern gucken.
Megan schlief wie ein Stein und würde nichts hören.
Dann könnte sie darüber nachdenken, was, beziehungsweise ob, sie Max antworten sollte.
Als sie um die Ecke bog, konnte sie nicht anders, als zu dem Mann hinüberzuschauen, der sie erst den Abend zuvor so in Wallung gebracht hatte.
Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie ihn sah.
„Oh mein Gott, wo warst du denn!?“, rief Kara überrascht. „Du siehst aus wie ein Eiszapfen!“
Adam stand in dem kleinen Flur. Er trug nichts als eine dünne Lederjacke als Schutz vor den Elementen.
Er zitterte vor Kälte.
„Mir geht’s g… g… gut“, stotterte er. Er presste Unter- und Oberkiefer zusammen, damit seine Zähne nicht klapperten.
„Gut? Gut! Du siehst aus wie der Cousin vom Schneemann und nicht von Megan. Los komm, zieh die Jacke aus. Hopp, hopp.“ Kara klatschte zweimal in die Hände und sah ihn erwartungsvoll an.
Ihr herrischer Ton entlockte Adam ein Lächeln und er zog die Schuhe aus.
Er schälte sich aus seiner Jacke. Darunter trug er ein Langarm-Shirt aus Baumwolle, das an seinem muskulösen Oberkörper klebte.
„Bist du nicht in Minnesota aufgewachsen? Es ist November, du Idiot. In Nächten wie diesen kannst du Frostbeulen bekommen.“ Kara machte sich daran, Adams Jacke in den Kleiderschrank im Flur zu hängen.
Sie versuchte, nicht auf die dünne, gebräunte Linie Haut zwischen seinem Shirt und der Jeans zu gucken.
Kara führte den zitternden Mann ins Wohnzimmer und deutete ihm, sich aufs Sofa zu setzen.
Sie wickelte ihm die Sofadecke um die Schultern und schob ihm den immer noch dampfenden Becher Kakao in beide Hände.
Adam seufzte vor Wohlbefinden, als die Wärme des Bechers seine eiskalten Hände aufwärmte.
Verwirrt betrachtete Kara ihn. Wie konnte er so dumm sein? Jeder weiß, dass man sich bei dem Wetter warm einpacken muss. Er hätte einen Zeh verlieren können. Oder Schlimmeres!
„Besser?“, fragte sie sauer.
Er nickte und schloss die Augen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Obwohl sie genervt von ihm war, musste Kara auch lächeln.
Irgendetwas an Adam war anders an diesem Abend. Die Kälte hatte seine Abwehrmechanismen eingefroren. Ausnahmsweise verhielt er sich mal nicht wie ein Vollarsch.
„Ehrlich, wo bist du gewesen?“, fragte sie etwas freundlicher.
„Ich br… brauchte einfach mal frische Luft“, sagte er und schlürfte den Kakao. „Mhmmm, mit Baileys. Gute Idee.“
„Japp, ich weiß! Das ist eigentlich mein Kakao!“, antwortete sie gespielt aufgebracht.
Plötzlich sah Adam sie schuldbewusst an. „Oh, das tut mir wirklich leid. Hier“, sagte er und hielt Kara den Becher hin. „Ich habe nur einen kleinen Schluck getrunken.“
Wow, der benimmt sich ja fast rücksichtsvoll. Wieder lächelte sie und schüttelte den Kopf.
„Danke, aber behalte den lieber. Wärm deine Finger auf. Ich mache mehr.“ Sie wollte sich gerade auf den Weg in die Küche machen, da stoppte Adam sie mit erhobener Hand.
„Bitte, ich will keine Umstände machen. Es geht mir gut.“
Der Blick aus seinen blauen Augen war herzzerreißend, wie der eines verwundeten Welpen. Sie fühlte so etwas wie Sympathie für den zitternden Mann auf ihrem Sofa.
Kara ging durch den Flur in die Küche.
Sie goss Milch in einen Topf zum Aufwärmen und holte die Kakaomischung vom Regal.
Kurz darauf war die heiße Schokolade fertig. Sie goss einen Schluck Baileys in den Becher, überlegte kurz und goss noch mehr hinein.
Außerdem holte sie noch eine Packung Double-Chocolate-Chips-Cookies.
Adam musste Hunger haben. Er hatte beim Abendbrot kaum was gegessen.
War zu beschäftigt mit den Nachrichten eines mysteriösen Jemands gewesen.
Jemand wie eine Freundin?
Karas Magen zog sich zusammen und sie fragte sich, was zur Hölle sie mit diesem sexy Fremden in ihrem Wohnzimmer machte.
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Sie trug die heiße Schokolade und Kekse ins Wohnzimmer und blieb stehen, als sie Adam sah.
Er war eingeschlafen. Den Kopf an die Sofalehne gedrückt und sein entzückender Mund weit offen.
Wie ein Frosch, der Fliegen fängt. Bei dem Bild musste Kara lachen.
Adam schreckte hoch. Einen Augenblick schien er nicht zu wissen, wo er war.
Dann sank er zurück aufs Sofa und blickte Kara hoffnungsvoll an.
„Teilst du die Kekse mit mir?“
„Nur wenn du Double-Chocolate-Chip magst“, antwortete sie grinsend. „Und nur, wenn du rüberrückst, damit ich auch sitzen kann.“
Adam kicherte und rutschte auf eine Seite des Sofas.
Er nahm sich zwei Kekse aus der Packung und verschlang sie in Sekundenschnelle. Dann nahm er noch zwei und stopfte sie sich beide in den Mund.
„Wanke“, sagte er mit vollem Mund und Kara konnte nicht anders; sie prustete los.
Das war das erste Mal heute, dass sie von Herzen lachte, und es fühlte sich so gut an.
Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und drehte den Kopf zu Adam.
Er schluckte ein Stück Keks herunter und sah sie an. Erst lag Dankbarkeit in seinem Blick, doch dann sah er sie plötzlich besorgt an.
„Du hast geweint“, sagte er und fuhr mit der Hand zärtlich über ihr von Tränen fleckiges Gesicht.
Karas rote Wangen erröteten noch mehr.
Sie entzog sich seiner Berührung.
„Ach, das ist nichts“, sagte sie schnell und schüttelte ihr schwarzes Haar, damit es ihr Gesicht verdeckte.
Überraschend zärtlich strich Adam ihr ein paar Strähnen aus den Augen.
Er hielt ihr seidiges Haar einen Moment zu lang in der Hand, bevor er es hinter ihr Ohr strich.
„Was ist passiert?“, fragte er zärtlich. „Geht es um den Typen, von dem du Megan erzählt hast? Aus der Bar? Matt?“
„Max“, korrigierte sie ihn, „und ja. Er hat mir ein paar nicht so nette Nachrichten geschrieben. Keine große Sache.“
Sie wollte nicht, dass Adam wusste, wie sehr Max sie verletzt hatte.
Zweifelnd starrte er sie mit seinen stechend blauen Augen an. Ein paarmal hob er zum Sprechen an, sagte dann aber nichts.
Er war nervös, stellte Kara erstaunt fest. Dieser wunderschöne Mann war wegen ihr nervös. Ihr Herz machte einen Hüpfer.
Schließlich traute er sich. „Dieser Max ist also dein Freund? Habt ihr euch gestritten?“
Kara fiel die Kinnlade runter. „Niemals!“, rief sie. „Max ist ein Schwein. Er interessiert sich nur für billige Tussis.“
Aber ihre Stimme zitterte ein wenig und Adam war nicht überzeugt. „Du musst Gefühle für ihn haben, sonst hätte er nicht so viel Macht, dich zu verletzen.“
Dieser Logik hatte sie nichts entgegenzusetzen.
„Ich kenne Max seit drei Jahren. Im ersten Semester haben wir im selben Wohnheim gewohnt. Er war immer so selbstbewusst, weißt du? Er wusste genau, was er wollte, und ließ nichts dazwischenkommen, bis er es gekriegt hat.“
Kara atmete tief ein und fuhr fort. „Ich denke, ich wollte die eine Sache sein, die er um alles in der Welt will. Etwas, worum er kämpfen würde. Ergibt das Sinn?“
Der leere Ausdruck auf Adams Gesicht reichte als Antwort.
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Kennst du die Märchen, mit denen wir alle aufwachsen? Schneewittchen und Dornröschen und Rapunzel?“
„Ich kenne die Disney-Filme. Zählt das?“, antwortete Adam und nahm einen großen Schluck Kakao.
„Klar. In all diesen Geschichten gibt es einen Helden, richtig? Der eine, der alles dafür tut, seine Prinzessin zu retten, weil er sie so sehr liebt. Er ist mutig, ehrlich und echt. Er ist …“ Sie verstummte, um die richtigen Worte zu finden.
„Er ist ihr Ritter auf einem weißen Pferd“, sagte Kara verträumt, vertieft in ihrer Vorstellung von wahrer Liebe.
ADAM
Ein Ritter.
Natürlich will sie einen. Und sie hat einen verdient.
Einen Ritter, der Adam niemals sein konnte.
Er konnte ihren ernsten Wunsch nach einem furchtlosen Märchenprinzen, der hinter jeder Ecke auf sie warten könnte, nicht ertragen.
Wie aufs Stichwort piepte sein Handy in seiner Gesäßtasche.
Oh Gott, was ist jetzt? Er zog das Handy aus der Tasche und tippte auf das Nachrichten-Icon.
Sein Herz fing an zu hämmern.
Er würde dies wahrscheinlich so oder so bereuen, aber er konnte sich nicht für immer verstecken.
Er konnte Megan und Kara nicht weiter in Gefahr bringen.
Die lockere Stimmung von vor ein paar Minuten war verpufft. Jetzt sah ihn Kara skeptisch von der Seite an.
„Was ist los mit dir?“, fragte sie. „Ist das deine Freundin, die wissen will, wo du steckst?“
Wenn Kara von Crawford und seinen Typen erfahren sollte, würde sie in noch größerer Gefahr sein.
So gerne er es auch getan hätte, aber er würde sich nicht erlauben, seine gefährliche Welt mit ihr zu teilen.
„Geht dich nichts an“, sagte er barsch.
Das hatte gesessen.
Du bist so ein Idiot, Adam.
Aber er hatte keine andere Wahl, wenn er sie beschützen wollte. Also setzte er ein arrogantes Grinsen auf und fuhr fort. „Wieso fliegst du jetzt nicht weg, kleiner Rabe? Ich möchte schlafen.“
Wut funkelte in Karas Augen.
Ihr feuriges Temperament reizte ihn. Halb hoffte er, dass sie mit demselben Zorn, den sie in der Bar gezeigt hatte, zurückschlug.
Stattdessen verdrehte sie nur die Augen. „Gute Nacht, Adam. Du bist der Letzte, von dem ich erwartet hätte, dass er etwas von Mut und Ehrlichkeit weiß. Dafür bist du ein zu großer Arsch.“
Und damit schnappte sie sich ihr Handy und ihren Laptop und stampfte den Flur hinunter.
Er war allein.
Weiter so, du Arsch.
Aber so war es besser.
Auch wenn der Duft ihrer Haare ihn verrückt machte.
Auch wenn sie in Jogginghose das Heißeste war, das er seit Jahren gesehen hatte.
Auch wenn sie klug und unabhängig und alles war, was er sich eines Tages wünschen würde.
Sie hatte Besseres verdient als ihn. Sie verdiente ihren Ritter.
Den er niemals sein könnte.