Sapir Englard
SIENNA
Auf der anderen Seite der Lichtung brach ein Wolf durch die Bäume. Er war groß, der größte, den ich je gesehen hatte, und seine goldenen Augen waren auf mich gerichtet. Ich knurrte, zeigte ihm die Zähne. Es war mir egal, ob ich ihn zornig machte. Er würde mich nicht kriegen.
Mein Gebaren zeigte keinerlei Wirkung. Er kam näher, um mich mit seiner schieren Größe einzuschüchtern.
Aber die Angst, die mich überkam, hatte nichts mit seiner Masse oder meiner Sicherheit zu tun. Sondern es lag allein an der Kontrolle, die er nun, nachdem er mich markiert hatte, auf mich ausüben konnte.
Meine Freundinnen hatten mir während unserer ersten Hitze davon erzählt, aber ich hatte es offensichtlich noch nie selbst erlebt. Während der Saison reagierte eine markierte Wölfin besonders stark auf ihren Bändiger. Mit nur einer Berührung konnte er seine Geliebte genauso geil machen, wie er es war.
In dem Augenblick, als Aiden im Restaurant meine Hand geküsst hatte, war genau das passiert. Ich hatte es in seinen Augen gesehen. Er kümmerte sich nicht um die Jagd oder darum, mich zu erobern. Er wollte einfach nur ficken. Typisch Alpha.
Vielleicht war das alles, worum es bei dem Date gegangen war. Eine Gelegenheit, mich unvorbereitet zu erwischen. Eine Gelegenheit, die Spannung abzubauen, damit er sich wieder um seine Verpflichtungen als Alpha kümmern konnte.
Diesmal war Emilys Stimme eindringlich genug gewesen, um mich zurückzuholen, aber was würde beim nächsten Mal passieren? Wie konnte ich seinem Werben entkommen, wenn er solche Macht über mich hatte?
Aiden hatte vergessen, dass ich nicht eine seiner zahmen Wölfinnen war und kam zu mir. Ich kannte meine Stärken, aber ich wusste, er durfte nicht näherkommen. Tief aus der Brust knurrte ich ihn an.
Bleib zurück, Mistkerl. Bleib verdammt noch mal zurück.
Meine Muskeln spannten sich an und ich erwartete, dass er sich auf mich stürzen würde.
Wir hielten uns fest im Blick, keiner von uns wich zurück.
Plötzlich lenkte das Geräusch von Tatzen auf Waldboden unsere Ohren in eine andere Richtung. Hinter Aiden schoss ein riesiger blonder Wolf aus dem Wald, gefolgt von vier weiteren Wölfen.
Es war Josh und er sah angespannt aus. Irgendetwas stimmte nicht. Was wollten sie hier?
In Wolfsgestallt starrte Josh Aiden an. Ich wunderte mich, dass keiner von uns beiden sie gewittert hatte. Allerdings hatten wir uns auch auf unsere jeweiligen Gerüche konzentriert. Was auch immer es war, es musste wichtig sein, denn zuerst reagierte Aiden erbost, als seine Untergebenen plötzlich auftauchten.
Aber dann kreiste er um sein Rudel, stimmte sie ein und sprach durch Knurren und mit Blicken zu ihnen. Er war der geborene Anführer.
Ich war neugierig. Hatte es etwas mit mir zu tun? Aber ich hatte nicht vor, abzuwarten, um herauszufinden, ob Aiden immer noch in Hitze war. Ich nutzte die Chance und floh in den Wald.
Während die letzten Sonnenstrahlen durch die Bäume fielen, bemerkte ich, während ich rannte, eine Gestalt. Als Wolf waren meine Sinne deutlich schärfer als in Menschenform.
Daher hielt ich inne und beobachtete die Frau mit der perlenweißen Haut und den Augen, die abwechselnd violett, blau und grau funkelten. Das Haar fiel ihr rabenschwarz und engelsgleich über die Schultern.
Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, dass sie mich genauso anstarrte, wie ich sie. Ihr Gesicht wie aus Porzellan war bezaubernd.
Jocelyn war atemberaubend, aber diese Frau übertraf sie bei Weitem. Ihre Züge und die Figur waren so perfekt geformt, dass sie nur ein übernatürliches, himmlisches Wesen sein konnte.
Trotz ihrer überirdischen Schönheit war ihr Auftreten allerdings ziemlich unspektakulär. Sie hatte locker sitzende Cargohosen und Stiefel an. Über ihrem schlichten Tanktop trug sie eine ausgewaschene Jeansjacke.
Ich überlegte, ob sie vielleicht wandern war, aber sie hatte keine Ausrüstung oder sonst etwas dabei. Und dazu zeigte sie absolut keine Angst vor mir. Dass sie kein Werwolf war, hatte ich gleich gewusst, aber sie roch auch nicht menschlich.
Wer war diese Frau?
Auf einmal wurde es im ganzen Wald still und ein Dröhnen begann in meinen Ohren. Ich schüttelte den Kopf, aber es hörte nicht auf.
Wieder blickten die seltsame Frau und ich uns an. Mein Kopf fühlte sich an, als ob er gleich platzen würde. Ich heulte auf und glaubte, ein Kinderschreien mit einstimmen zu hören.
Ich konnte nicht mehr scharf sehen, als zwei Schatten über mir schwebten. Ich wusste nicht, ob sie nach mir griffen oder mir wehtun wollten, aber schon waren sie wieder verschwunden.
Ich sah wieder zu der Frau, gerade als auch sie erneut in der Nacht verschwand und langsam unsichtbar wurde, wie ein Gespenst.
Das Dröhnen in den Ohren hörte auf und die Geräusche des Waldes kamen zurück. Der Mond stieg nun auf und die Klänge des Waldes stimmten ihr Abendlied an.
Vorsichtig ging ich zu der Stelle, an der die Frau gestanden hatte, aber da war keine Spur von ihr. Ich hielt die Schnauze in die Luft, aber alles, was ich wittern konnte, waren der feuchte Boden und die üblichen Bewohner des Waldes.
Hatte ich sie wirklich gesehen oder hatte ich mir das alles nur eingebildet?
Wenn sie wirklich existierte, was wollte sie von mir? Warum würde sie sich mir zeigen und dann einfach verschwinden? Nichts davon ergab einen Sinn.
Ich erschauderte bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn Josh und die anderen Wölfe nicht aufgetaucht oder etwas später gekommen wären.
Die ganze Nacht hatte mir gezeigt, wie wenig ich über Beziehungen wusste und welchen Regeln eine markierte Wölfin unterworfen war. Ich kannte die Hitze erst seit drei Jahren, Aiden aber war ein erfahrener Liebhaber und kannte alle Tricks. Dazu kam noch, dass er ein Alpha war und daher stärker als ein anderer Partner.
Nichts davon half mir dabei, auf meinen Gefährten zu warten, und Aiden war weit davon entfernt.
Wozu gab es überhaupt einen Alpha, wenn er die Macht nicht alleine halten konnte? Das alles klang reichlich übertrieben, wie eine ausgeklügelte Ausrede, um mit allen im Rudel schlafen zu können, bevor er sich „entschloss“, seinen Partner zu finden.
Ich wünschte, ich könnte gegen meine Wolfsnatur ankämpfen und nie wieder von der Hitze betroffen sein. Genau das hatte Emily doch dazu getrieben, das zu tun, was sie getan hatte.
Nie wollte ich ein Mensch sein, aber während dieser Saison beneidete ich sie um ihre Unwissenheit. Menschliche Frauen mussten sich mit dieser Scheiße nicht herumschlagen.
Sie mussten sich nicht unterwerfen, weil sie markiert wurden oder von irgendwem überlistet werden, um sie ins Bett zu bekommen. Nie verloren sie die Kontrolle über sich selbst.
Das Heulen anderer Wölfe riss mich aus den Gedanken. Obwohl ich wohl oder übel einen Partner hatte, war ich in diesem entlegenen Teil des Waldes nicht sicher alleine. Nur die verzweifelsten, einsamsten Wölfe würden sich um diese Zeit hier herumtreiben.
Ich konnte mich verteidigen. Schließlich hatte ich gerade erst den Alpha herausgefordert, aber mir war klar, dass ich mich nicht gegen mehrere geile Wölfe zur Wehr setzen konnte. Letztes Mal hatte ich Glück gehabt, ich musste schleunigst hier weg.
Ich rannte zurück durch den Wald nach Hause. Als ich die Baumgrenze schon fast erreicht hatte, fiel mir ein, dass ich das Kleid von Aiden zerfetzt und unterwegs verloren hatte. Mit anderen Worten war ich nackt, wenn ich mich zurückverwandeln würde.
Nicht, dass es verboten war, als Wolf in der Stadt unterwegs zu sein, aber es war auch nicht gerade gern gesehen. Ich hatte es noch nie ausprobiert. Nachdem ich aber zuvor schon halb verwandelt ins Rudelhaus gestürmt war, konnten mir ein paar missbilligende Blicke nichts anhaben.
Trotzdem wollte ich kein Aufsehen erregen, nahm Seitenstraßen und huschte durch Schatten, bis ich in meiner Straße ankam.
Als ich um die Ecke bog, begannen die Lichter der Straßenlaternen zu pulsieren und mir wurde wieder schwindelig. Mein Kreislauf wurde schwach und alle Sinne wie vernebelt. Was hatte diese Frau nur mit mir gemacht?
Ich versuchte, über den Zaun unseres Gartens zu springen, verfing mich aber mit dem Hinterlauf an einem Pfahl und schlug schwer auf dem Boden auf. Ich sah auf und ein düsterer Schatten schwebte auf mich zu.
Ich rannte zur Hintertür und kratzte hilflos daran, mit den Tatzen konnte ich die Klinke nicht drehen und mir fehlte die Zeit, um mich zu verwandeln.
Ich war umzingelt, es gab keinen Ausweg. Ich wollte aufheulen, die Krallen zeigen und mich wehren, aber ich war starr vor Angst.