Alle Blicke Auf Uns - Buchumschlag

Alle Blicke Auf Uns

Rebeca Ruiz

Übelkeit

LANEY

EIN MONAT SPÄTER

Kunst zu verkaufen ist eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die ein Künstler machen kann. Vor allem, wenn dieser Künstler so introvertiert ist wie ich ist. Aber heute ist mein Magen irgendwie noch unruhiger an als sonst.

Ich frage mich warum? Allerdings fällt mir keine Erklärung ein. Ich stehe mitten in der Charpentier-Galerie, zeige dieses und jenes Werk und kann mich kaum noch zusammenreißen.

Vielleicht kann ich die zusätzlichen Schmetterlinge in meinem Bauch auf die hochkarätigen Gäste und Kunstkritiker schieben, die dieser Ausstellung beiwohnen.

Das muss es sein, sage ich mir. Es liegt sicher daran, dass ich ausnahmsweise tatsächlich mal Kunst verkaufen werde!

Vorsichtshalber trinke ich etwas Ginger Ale. Während ich weiterhin jede Person, die durch die Tür kommt, begrüße, spüre ich, wie mein Handy vibriert.

AddieBin bald da, Schwesterherz.
LaneyGut
LaneyIch fühle mich allerdings etwas komisch, weiß aber nicht genau warum
AddieSoll ich dir was dagegen mitbringen?
LaneyNein, nein, ich komm schon klar
Addie😙
AddieBis gleich

LANEY

Als ich mein Handy weglege, bemerke ich einen alten Herrn mit struppigem Bart, der jedes einzelne meiner Werke mit finsterem Blick untersucht.

Mein Magen zieht sich noch mehr zusammen, wenn das überhaupt möglich ist, denn ich erkenne den Mann. Er ist einer der berühmtesten Kunstkäufer der Stadt. Der unvergleichliche Sebastian Murphy.

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gefällt Mr. Murphy nicht, was er sieht.

Schließlich bleibt er bei einem Gemälde stehen - meinem neuesten, auf das ich besonders stolz bin - und verweilt dort ein paar Minuten länger als bei den anderen.

Gespannt gehe ich auf Mr. Murphy zu, bereit, mir anhören zu müssen, ich solle nie wieder malen.

"Ist das Ihr Werk?", fragt er, als ich mich neben ihn stelle.

Ich nicke.

Er schaut noch ein bisschen finsterer drein und runzelt die Stirn. "Es ist ..."

Uninspiriert. Bedeutungslos. Müll.

Das ist es, was er sicher gleich sagen wird. Aber dann ändert sich sein Gesichtsausdruck und er lächelt.

"... wirklich sehr aufschlussreich", sagt er, und ich muss dem Drang widerstehen, nach Luft zu schnappen. "Darf ich fragen, was Sie dazu inspiriert hat?."

"Na ja", beginne ich und betrachte das Gemälde, unsicher, wo ich anfangen soll.

Es ist eine Silhouette von zwei Menschen. Einem Paar. Man muss schon sehr genau hinsehen, um überhaupt ihre Körper zu erkennen. Ich habe sowohl helle als auch dunkle Farben benutzt, leidenschaftlich und gedämpft. Wie zwei gegensätzliche Persönlichkeiten. Zwei verschiedene Welten, die aufeinanderprallen.

"Es heißt One Night", beginne ich. "Und es ist inspiriert von einer zufälligen Begegnung von ... zwei Gegensätzen, könnte man sagen."

Diese zufällige Begegnung war natürlich nichts anderes als die Nacht, die ich mit Ace verbracht habe. Das hier war meine einzige Möglichkeit, der Welt davon zu erzählen, ohne seinem Ruf zu schaden.

Seitdem habe ich über diese Nacht nachgedacht und immer wieder verschiedene Interpretationen gemalt. Dieses Bild kommt dem am nächsten, was ich empfunden habe.

Wenn ich darüber nachdenke, dass ich Ace einfach verlassen habe, ohne mich zu verabschieden, fühle ich mich ein wenig unwohl. Normalerweise bin ich niemand, der sich heimlich davon macht, aber in dieser Nacht, nachdem wir Sex hatten, schaute ich auf mein Handy und sah eine Nachricht von Melody.

"Ein Aufreißer." So hatte sie ihn genannt.

Also beschloss ich, uns beiden ein unangenehmes Gespräch zu ersparen.

Wenn ich mir mein Bild jetzt ansehe, bereue ich meine Entscheidung keine Sekunde lang. Ohne diese unvergessliche Nacht mit dem Rockstar hätte ich nie das beste Bild meines Lebens gemalt.

"Fünfundzwanzigtausend", sagt er, und ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. "Sind Sie einverstanden?"

Ich versuche, die Fassung zu bewahren, nicke und lächle ihn an. Innerlich raste ich jedoch vollkommen aus. Fünfundzwanzigtausend Dollar?! Bisher hatte ich maximal sechstausend Dollar für ein Bild bekommen."Auf jeden Fall", sage ich schließlich.

Er nickt, zufrieden. "Gut. Ich denke, in ein paar Jahren wird es viel mehr wert sein. Ihr Talent ist ... außergewöhnlich. Was soll ich sagen?"

Ich muss mich zurückhalten, um ihn zu umarmen.

"Danke, es gehört Ihnen." Ich klebe einen roten Aufkleber neben den Titel meines Bildes. Dann schüttelt er mir die Hand, und als er sich umdreht und weggeht, führe ich, immer noch vollkommen geschockt, einen kleinen Freudentanz auf.

"Habe ich da gerade etwa richtig gehört, dass du etwas für fünfundzwanzig Riesen verkauft hast?"

Ich drehe mich um und sehe eine grinsende Addie vor mir stehen.

"Ja", sage ich und lache. "Rate mal, wer diesen Sommer nach Europa fliegt?"

"Ah, meine Zwillingsschwester, die Künstlerin!" Sie umarmt mich. "Herzlichen Glückwunsch!"

Als wir uns umarmen, rieche ich ihr Parfüm, und aus mir unerklärlichen Gründen dreht sich mir der Magen um. Da ist sie wieder, diese Übelkeit. Was ist nur los mit mir?!

Ich trete ein paar Schritte zurück, bin plötzlich schweißgebadet und blass.

"Ich muss dringend etwas frische Luft schnappen", stottere ich.

Addie runzelt besorgt die Stirn und begleitet mich nach draußen. Obwohl es erst November ist, ist es in Chicago schon bitterkalt. Leider hilft mir die frische Luft nicht.

"Oh je, mir wird schlecht", sage ich und laufe zur Ecke des Gebäudes.

Addie kann mir gerade noch rechtzeitig die Haare halten, bevor ich anfange, mich zu übergeben. Oh mein Gott. Es hört gar nicht mehr auf.

"Wie viel hast du heute Abend schon getrunken, Laney?"

Ich schüttele den Kopf und wische mir den Mund ab. "Nichts. Ich habe schon die ganze Woche Magenprobleme. Von deinem Parfüm ist mir auf einmal richtig übel geworden, ich kann es nicht erklären."

Plötzlich bekommt Addie ganz große Augen.

"Dir wird von meinem Parfum übel? Das hast du uns letzten Sommer zum Geburtstag gekauft - du hast es sogar für dich selbst gekauft, weißt du noch?"

Ich runzle die Stirn. Das kann doch nicht stimmen. Daran würde ich mich doch erinnern, oder?

"Vor ein paar Monaten hat es noch nicht so gerochen", sage ich und atme tief ein. "Ich weiß nicht. In letzter Zeit wird mir einfach von allem schlecht. Wahrscheinlich ist es nur die Angst vor der Vernissage oder so."

Wahrscheinlich. Höchstwahrscheinlich. Das muss es sein.

Addie wirft mir einen strengen Blick zu. "Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Laney."

Ich will sie gerade fragen, was sie meint, als es Klick macht.

Nein. Das kann nicht sein. Alles, nur nicht DAS ...

AceBin gerade gelandet
AceSagst du mir jetzt endlich, worum es geht, Cousin?
EricIch musste Addie versprechen, es nicht zu tun
EricAber, hey, willkommen zurück in Chicago?
AceWas zum Teufel ist hier los?
EricBis gleich

ACE

Ich bin kein großer Fan von Überraschungen. Wenn mir jemand etwas zu sagen hat, ziehe ich es vor, dass er oder sie es einfach ausspuckt. Aber seit Eric mich angerufen und mir gesagt hat, dass ich nach Chicago fliegen soll, weiß ich, dass etwas im Busch ist.

Die Frage ist nur: was?

Eric behauptet, dass er mich für ein paar Gesangsaufnahmen für unser neues Album braucht. Aber was hat Addie dann mit meinem Besuch zu tun? Soweit ich weiß, ist sie diejenige, die alles arrangiert hat.

Als ich aus dem Flughafengebäude komme, wartet Eric bereits in seinem Auto auf mich. Jetzt erst stelle ich fest, dass ich eindeutig zu wenig Klamotten eingepackt habe. Im Vergleich zum Herbst in Chicago ist der in LA ein Witz.

Wie konnte ich das nur vergessen? Die Wahrheit ist, dass sich mein Alltag nach der verrückten Nacht, die ich mit Laney verbracht habe, ein wenig ... seltsam angefühlt hat. Warum genau weiß ich jedoch nicht.

Ich weiß natürlich, dass es nur ein One-Night-Stand war. Da mache ich mir nichts vor. Aber die Art, wie sich unsere Körper berührten, wie sich ihre Lippen auf meinen anfühlten, ihre Wärme ...

Die Gedanken daran reichen aus, um einen Mann in der Öffentlichkeit hart werden zu lassen.

Ich verscheuche die Gedanken aus meinem Kopf und steige in Erics Auto. Es ist ja nicht so, dass ich mich mit Laney treffen würde.

Sie hat mir an dem Morgen, als sie ging ohne sich zu verabschieden, deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mich nie wieder sehen will. Oder nicht?

"Hey, Mann!", sage ich und strecke die Arme aus, um meinen Cousin zu umarmen. Als ich jedoch den Ausdruck auf Erics Gesicht sehe, halte ich inne. Er sieht ... nervös aus.

"Was ist los?"

"Nichts."

Auf dem Weg zu Eric unterhalten wir uns ein wenig über die Band, aber ich spüre, dass er abgelenkt ist. Was auch immer das Geheimnis ist, es beginnt an mir zu nagen.

Verdammt noch mal, kann mir endlich mal jemand sagen, was hier los ist?

Irgendwann halten wir vor einem alten braunen Gebäude in einer belebten Gegend. Da ist definitiv nicht das Haus von Eric und Addie.

"Seid ihr umgezogen?"

"Nein", sagt er und parkt. "Es wird alles einen Sinn ergeben, wenn wir oben sind."

Ich schüttle den Kopf und werde mit jeder Sekunde frustrierter und verwirrter. Trotzdem folge ich Eric aus dem Auto, in das Gebäude und nehme gemeinsam mit ihm den Aufzug in den sechsten Stock.

Als wir das Loft betreten, sehe ich überall Leinwände und Farben. Es scheint ein Kunstatelier zu sein. Hm.

Und die Kunst, stelle ich fest, ist verdammt gut. Definitiv nicht von einem Amateur. Ich sehe immer und immer wieder ein ähnliches Motiv, auch wenn es jedesmal ein wenig anders aussieht. Zwei Farben prallen aufeinander, fast wie zwei Persönlichkeiten.

Aus Gründen, die ich nicht erklären kann, spricht es etwas in mir an.

"Eric", sage ich und wende mich an meinen Cousin. "Wer hat die gemalt?"

Wir gehen um eine Ecke, und da sehe ich sie. Eine Frau mit erdbeerblonden Haaren die eine Latzhose trägt, die gerade eine Leinwand bemalt, Kopfhörer trägt und komplett in ihrer eigenen Welt versunken ist. Ohne zu wissen, dass ich überhaupt hier bin.

Es ist Laney Michaels. Das ist ihr Atelier.

Ich spüre, wie sich mein Magen zu einem schockierten Knoten verdreht.

"Was zum Teufel mache ich hier?", frage ich Eric. In diesem Moment öffnet sich die Eingangstür und Laneys Zwillingsschwester, Erics Frau und offenbar meine schlimmste Feindin, stürmt wütend herein.

"Ich habe dich um eine Sache gebeten, Ace", schreit sie. "Ich habe dir gesagt, du sollst die Finger von meiner Schwester lassen!"

Addie schubst mich, aber ich bewege mich kaum. War das wirklich so eine große Sache? Außerdem überraschte es mich, dass Laney es ihr erzählt hatte. Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, es geheim zu halten.

"Du bist so ein Mistkerl!", schreit Addie.

"Herrgott, ich meine, es war doch nur Sex."

"Nur?", schreit sie und schüttelt ungläubig den Kopf. "Du hast wirklich keine Ahnung, oder?"

"Addie, hör auf!"

Wir drehen uns beide um und sehen Laney, die ihre Kopfhörer abgenommen hat und ziemlich peinlich berührt aussieht. Auf ihrer Wange ist eine blaue Farbspur zu sehen.

"Könnt ihr uns bitte für einen Moment alleine lassen?", fragt Laney ihre Schwester.

Addie wirft mir noch einen letzten Blick zu und stürmt dann mit Eric hinaus, der nur mit den Schultern zuckt.

Als wir allein sind, wende ich mich überrascht an Laney.

"Es tut mir wirklich leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe", sage ich. "Ich dachte wirklich, wir hätten ein nettes ..."

"Ace", unterbricht sie mich. "Das ist es nicht."

Ich runzle die Stirn. "Wovon redest du?"

Dann, mit Tränen in den Augen und einer einsamen Träne, die durch die blaue Farbe über ihre Wange läuft, sagt Laney die letzten Worte, die ich zu hören erwarte.

"Ich bin schwanger, Ace. Und das Baby ist von dir."

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