Durch Flammen vereint - Buchumschlag

Durch Flammen vereint

Suri Sabri

Die Augen des Königs

GABRIEL

Irgendwo da draußen, unter den Bewohnern seines weitläufigen Königreichs, war das Mädchen, das Gabriel für sich beanspruchen sollte. Er war seit mehr als drei Jahrhunderten König, und doch hatte er sie irgendwie nie gefunden.

Bis jetzt.

Heute würde Gabriel endlich den Himmelsdrachen treffen. Also, warum war er nicht glücklich?

"Gabriel, geht’s dir gut?"

Gabriel drehte sich um und sah seinen Stellvertreter und besten Freund, Aero, neben sich. Er seufzte, schüttelte den Kopf und wusste, dass er auf frischer Tat ertappt worden war. Er stand auf der Spitze des höchsten Schutzwalls in seinem Königreich und trug einen grüblerischen Blick, den Aero gut kannte.

"Gut, Aero", sagte er. "Ich musste nur meinen Kopf frei bekommen."

"Du denkst wieder an sie, nicht wahr?", fragte Aero. "Das Mädchen?"

"Wie könnte ich nicht, Aero? Heute ist ihr achtzehnter Geburtstag."

Die Wächter des Schicksals hatten Gabriel vor Jahren gewarnt, dass dieser Tag kommen würde. Obwohl er keine Ahnung hatte, wer sie war, verfolgten ihn Severinas Worte weiterhin.

"Das Mädchen ist dazu bestimmt, dich zu beschützen. Um dich zu retten... und dein Königreich."

Er schüttelte den Kopf, empört. Seit wann brauchte Gabriel Schutz? Er war einer der mächtigsten Zauberer in ganz Ignolien! Welche Macht könnte ein Teenager-Mädchen besitzen, die in der Lage wäre, ihn zu retten?

Was machte dieses Mädchen so besonders?

"Du hast diesen Blick an dir, Gabriel", warnte Aero. "Den dunklen Blick."

Gabriel lachte bitter auf. "Komisch, nicht wahr? Ich regiere ein Königreich, das so hell und schön ist, dass es das Auge blendet. Und doch, mein Herz und meine Magie... sie sind voller Dunkelheit."

Aero zitterte. Er hatte Gabriel schon einmal Schatten beschwören sehen. Er wusste, wozu sein König fähig war ... und welche Gefahren diese Schatten für seine Seele darstellten.

"Komm, Gabriel", sagte Aero schließlich und durchbrach die ahnungsvolle Stille, die sich über sie gesenkt hatte. "Deine Schwester hat nach dir gefragt. Sie trifft sich heute mit den Priestern, um die Zeremonie vorzubereiten, und schlägt vor, dass du dich anschließt."

"Schlägt vor, hm?", sagte Gabriel mit einem Seufzer. "Genau das, was ich brauche."

Aber Aero stupste ihn mit einem Zwinkern und einem verschmitzten Lächeln in die Rippen. "Wir wissen beide, wer das Königreich wirklich regiert, Gabriel. Beeil dich lieber."

Gabriel lachte trotz seiner selbst. "Lis akzeptiert kein Nein als Antwort, das stimmt. Aber pass auf dich auf, Aero."

"Da ist der König, den ich kenne."

Gabriel schätzte Aero für seinen Humor. Egal wie dunkel der Tag schien, sein Waffenmeister schaffte es immer, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.

"Schon gut, schon gut", sagte er und folgte Aero. "Lass uns zu Lis gehen."

Es war eine Weile her, dass Gabriel unter seinem Volk gewesen war. Vielleicht war es genau das, was er brauchte, auf dem Boden zu sein, anstatt hoch oben in seinem Elfenbeinturm.

Wie auch immer, wenn er nicht im Palast war, würde er das Himmelsdrachen-Mädchen nicht treffen müssen.

Dafür war der König bereit, überall hinzugehen.

LYDIA

"Ich soll... ich soll, WAS?!"

Lydia konnte immer noch nicht glauben, was Lucius ihr gerade erzählt hatte. Vor den Toren des Palastes stehend, starrte sie ihren Vormund ungläubig an.

Ich?

om König beansprucht werden?

Sicherlich scherzte Lucius. Aber seine traurigen jadegrünen Augen, seine gebeugte Haltung und die Hand, die zittrig nach seinem Flachmann griff, sagten ihr etwas anderes.

"Es tut mir leid, dass ich es dir nie gesagt habe, Lydia", sagte er ernsthaft. "Ich fürchtete, wenn du es wüsstest, würde das Geheimnis irgendwann herauskommen, und ..."

"Und, was?"

"Und du wärst in Gefahr! Du kannst kaum einen Feuerball werfen, geschweige denn dich verteidigen. Ich musste dich erst trainieren."

Lucius nahm einen Schluck von seinem Rum. Lydia, so empört, so völlig schockiert von dieser Offenbarung, schlug ihm den Flachmann aus der Hand auf den Kopfsteinpflasterboden.

"Ich kann es nicht glauben!", rief sie. "All die Jahre hast du das für dich behalten, und ... und ..."

Lydia fehlten die Worte. Ihr Mund war plötzlich trocken. Die Luft, unmöglich zu atmen. Es fühlte sich an, als würde die Welt, wie sie sie immer gekannt hatte, um sie herum zusammenbrechen.

"Es ist nicht mein Wille, Lydia", versuchte Lucius zu erklären. "Die Götter verlangen es. Nur wenn ihr beide verbunden seid, wird das Königreich sicher sein."

"Es macht alles Sinn", sagte sie, wich zurück und schüttelte den Kopf. "Deine lächerlichen Regeln. Dein Training. Du hast mich ... gemästet wie eine Kuh für die Schlachtung."

"Es ist nicht so, dass – "

"Meine Jungfräulichkeit zu retten, damit der König sie sich nehmen kann?! Mich lehren, meine Kräfte zu seinem Vorteil zu nutzen?!"

"Ist das so falsch?"

Alles, was Lydia je wollte, war, eines Tages eine große, mächtige Zauberin zu sein. Wie Lucius es einst war, der Legende nach. Jetzt sollte sie beansprucht werden. Eine gefangene Frau. Ein Bauer in einem Schachspiel, das von Mächten jenseits ihrer Vorstellungskraft gespielt wurde.

Es war alles zu viel.

"Lydia, bitte", sagte er. "Ich habe das nicht getan, um dich zu verletzen. Du... du bist wie eine Familie für mich."

Das Wort "Familie" zwang Lucius zu einer unwillkürlichen Grimasse. Warum er immer so einen Abstand zwischen ihnen gehalten hatte, warum er es immer gehasst hatte, dass sie ihn Großvater nannte, hatte Lydia nie verstanden. Aber jetzt ergab alles einen Sinn.

Weil Lucius wusste, dass er sie eines Tages verstoßen müsste.

Lydia spürte, wie Lux in ihrer Tasche zitterte, die arme Katze, die inmitten der seltsamsten Konfrontation aller Zeiten gefangen war.

"Lydia ...", hörte sie ihn zaghaft miauen. "Was hat das alles zu bedeuten?"

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Nach allem, was sie wusste, würde das Betreten dieses Palastes das Ende ihrer Freundschaft mit Lux bedeuten. Was für ein König erlaubte einer sprechenden Katze einen Platz an der Tafel?

Sie wich weiter von Lucius zurück, und seine Augen weiteten sich.

"Lydia, nicht ...", sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen. "Du darfst nicht gehen. Das ist dein Schicksal!"

Aber Lydia hatte nicht vor, noch ein Wort aus dem verlogenen Mund des alten Zauberers zu hören.

"Du hast keine Kontrolle mehr über mich, Lucius", sagte sie.

Und damit drehte sich Lydia um und floh aus dem Palast und stürzte in die belebten Straßen von Imarnia, während Lucius' Stimme ihr nachrief.

"Lydia... LYDIA!"

***

Lydia wanderte durch die Altstadt und konnte kaum etwas sehen, so verschwommen waren ihre Augen von den Tränen. Lux kroch aus der Tasche und rollte sich um ihren Hals, schnurrte leise und versuchte, sie zu trösten.

Obwohl ihr das einige seltsame Blicke von Passanten einbrachte, war es Lydia egal. Sie war dankbar, ihren pelzigen Freund zu haben.

Wie auch immer, sie war es gewohnt, seltsame Blicke zu bekommen. Ihre feurigen Augen waren das Weiteste, was von der Normalität entfernt war. Der Preis dafür, ein Feuer-Himmelsdrache zu sein.

Sie dachte wieder an Lucius und all die Geheimnisse, die er vor ihr geheim gehalten hatte. Die Vorstellung, dass ausgerechnet sie dazu bestimmt war, den König von Imarnia zu beschützen ... das war einfach zu viel, um es zu verarbeiten.

Sie fühlte sich, als würde sie wieder in Tränen ausbrechen, als Lux ihre Wange kraulte.

"Lydia, sieh dich um ...", sagte er voller Ehrfurcht. "Dieser Ort ist erstaunlich."

Lux hatte Recht. Lydia hatte sich noch nie so weit aus ihrer kleinen Stadt herausgewagt. Die Hauptstadt in all ihrer Pracht zu sehen, war fast genug, um sie von dem ganzen Drama des Tages abzulenken. Fast.

"Was ... was ist das?", fragte Lydia und zeigte auf etwas.

Eine große, teure Kutsche fuhr an ihnen vorbei, geführt von den seltsamsten Tieren, die Lydia je gesehen hatte. Sie waren wie Pferde, aber weiß, mit breiten blauen Streifen.

Bei ihrem Anblick weiteten sich Lux' Augen, und instinktiv huschte er zurück in die Tasche.

"Hab keine Angst, Lux", sagte Lydia und kicherte. "Sie beißen nicht."

Sie erinnerte sich jetzt an ihre Namen. Moxars. Sie hatte sie in der Grundschule kennengelernt. In der Nähe spielten Kinder, und in den Boutiquen gingen Kunden ein und aus, die Arme voll mit Taschen und Einkäufen.

Alles an dieser Stadt fühlte sich lebendig an.

Lydia saß neben einem in Stein gehauenen Brunnen und bewunderte seine Schönheit. Ströme von Wasser schossen aus dem Mund eines silbernen Phönix. Lydia erinnerte sich an das, was sie einmal gelernt hatte ... der Gott Azareth hatte bei der Gründung von Imarnia dem König einen Phönix wie diesen geschenkt.

Lydia fragte sich, ob dies nur eine Legende war, oder ob etwas Wahres daran war. Immerhin hatten die Leute früher so über Himmelsdrachen gesprochen.

Als ob sie reine Fantasie wären. Der Stoff, aus dem die Märchen sind.

Und doch, hier war Lydia, deren bloße Existenz ihnen das Gegenteil bewies.

"Lux", sagte sie. "Glaubst du...?"

Aber sie kam nie dazu, diesen Satz zu beenden, denn plötzlich wurde die Schönheit und Ruhe des historischen Viertels von Imarnia durch einen hohen Schrei unterbrochen.

"STOPP! DIEB!"

GABRIEL

"Ich will damit nur sagen, Bruder, dass dieses Mädchen an deiner Seite gut für dich sein könnte."

Es kostete Gabriels ganze Willenskraft, nicht mit den Augen zu rollen. Lis, seine Schwester, war gerade mitten in einer ihrer berühmten Vorlesungen, als sie durch die Dörfer zogen. Wachen umgaben sie und hielten das gemeine Volk in sicherer Entfernung.

"Lis", sagte er mit einem Seufzer, "könnten wir ausnahmsweise mal über etwas anderes als mein Liebesleben reden?"

"Oder deren Fehlen", neckte sie. "Heute ist ein großer Tag, Gabriel. Du solltest aufgeregt sein."

Der König wollte gerade mit seiner eigenen, scharfen Erwiderung antworten, als ein Tumult vor ihm ihn ablenkte.

"Was ist das?", fragte Lis und runzelte die Stirn.

Die Wachen kamen näher und drängten sie, die Kutsche zu betreten. Aber jetzt war auch Gabriel neugierig. Als er sich durch die Menge drängte, sah er etwas, das seine Augen vor Schreck weiten ließ.

Eine Verfolgungsjagd war im Gange, mitten im historischen Viertel. Und keine gewöhnliche Verfolgungsjagd. Ein Dieb raste über den Marktplatz, sprintete um sein Leben, während die Behörden ihm hinterherliefen.

Aber hoch über ihnen fliegt eine junge Frau – ja, sie fliegt – und nutzt eine Art von Elementarkraft, um sich in den Himmel zu katapultieren.

Gabriels Mund fiel ungläubig zu Boden, als das Mädchen eine Hand hob, einen Feuerball beschwor und ihn mit aller Kraft warf.

Die Flammen explodierten direkt vor dem Dieb, bildeten eine Feuerwand und stoppten ihn in seinem Lauf.

Er huschte zum Stillstand und hob erschrocken die Hände, als sie herunterkam.

Jetzt konnte Gabriel sehen, dass das Feuer auch in ihren Augen brodelte. Es waren die schönsten und eindringlichsten Augen, die er je gesehen hatte.

"Fallen lassen", sagte sie, und der Dieb gehorchte und ließ seine Tasche mit den gestohlenen Juwelen zu ihren Füßen fallen. Erst als dies geschehen war, atmete das Mädchen auf und bemerkte, dass eine riesige Menschenmenge sie beobachtete. Die Augen waren überall.

Einschließlich seiner. Die des Königs.

Ihre Blicke trafen sich.

LYDIA

Lydia hatte noch nie in ihrem Leben so viel mit ihren Himmelsdrachen-Kräften erreicht. Es war, als ob ein anderer Geist die Kontrolle über ihren Körper übernommen hatte und sie nur dabei war.

Aber nicht jetzt. Jetzt war sie wieder Lydia. Und auf sie starrte, umgeben von einem ganzen Bataillon königlicher Wachen, ein großer, dunkler, mysteriöser Mann in dem am meist verziertesten Outfit, das Lydia je gesehen hatte.

Alle keuchten und verneigten sich bei seinem Anblick.

Er hatte ein breites Kinn und eine harte Kieferlinie mit hohen Wangenknochen. Seine Haut war blass und makellos. Seine Nase, gerade. Seine rosa Lippen, voll. Seine Augen waren hart, stechend und von einer Farbe, die Lydia noch nie gesehen hatte. Sie waren das Grau der Wolken nach einem Gewitter.

Aber etwas an seiner Aura war dunkel und schattenhaft ... was ihn nur noch attraktiver machte. Tatsächlich erkannte Lydia, dass er bei weitem der attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte.

Als sich ihre Blicke trafen, war es, als ob das stärkste, magnetischste Band an seinem Platz eingerastet wäre. Es fühlte sich an, als hätte das Schicksal sie buchstäblich zusammengeführt.

Aber wer war er?

"Eure Hoheit", ertönte eine vertraute Stimme.

Sie drehte sich um und sah Lucius atemlos heranlaufen. Hat er gerade gesagt...Hoheit?!

Lucius drehte sich zu ihr um, und als ob er ihre Gedanken lesen könnte, nickte er. "Lydia, erlaube mir, dich König Gabriel vorzustellen."

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