
Wenn der Wolf anklopft
Linas Halloween-Pläne sind simpel: schlechte Horrorfilme, buttriges Popcorn und auf keinen Fall Typen aus einer Studentenverbindung. Doch als ein atemberaubend attraktiver Fremder vor ihrer Tür steht und behauptet, gleich in einen Werwolf zu verwandeln, wird ihr ruhiger Abend schnell zur wilden Jagd. Ein Paar flauschige pinkfarbene Handschellen, ein paar scharfe Fangzähne und viel zu viel nackte Haut später ist sie mit mehr als nur Gefahr in der Dunkelheit gefangen. Jetzt muss Lina entscheiden, ob sie ihm durch die Nacht hilft, um ihren Verstand zu retten – oder ob sie dabei die wildeste, ungestümste Verbindung spüren wird, die sie je erlebt hat. Halloween soll gruselig sein … aber dass es auch glühend heiß werden könnte, hat ihr niemand gesagt.
Spaß. Ja, klar … wenn Sterben zählt.
„Komm schon, wird schon lustig werden.“
Das Mädchen im Fernsehen stand kurz davor, in einen dunklen Keller zu steigen, wo irgendwer mit einem Messer auf sie wartete. Lina schnaufte verächtlich. Lustig. Ja, klar … wenn man auf einen schnellen Tod stand. Sie zog die Decke höher, wobei ihr schwarzes Haar ihr ins Gesicht, fiel, während sie mit dem abgeblätterten Nagellack über den Rand der Popcornschüssel kratzte.
Heute Abend hatte sie das Haus für sich allein. Kein Bruder, der im Flur mit einem Fußball gegen die Wände donnerte. Keine Eltern, die ihr predigten, sie solle endlich in die Kirche gehen. Kein Opa, der mit zittriger Stimme Gebete murmelte und diese seltsamen gelben Zettel an die Fenster klebte, als wäre die Welt noch dieselbe wie vor fünfzig Jahren.
Das hatte er noch erledigt, bevor er gegangen war. Seine Hände hatten gezittert, als er die Schriftstücke ans Glas drückte. „Zum Schutz“, hatte er gesagt. Besonders heute. Besonders an Halloween. „Heute Nacht geht es nicht nur um Verkleidungen und Süßigkeiten. Heute kommen die Toten zurück. Heute suchen die bösen Geister nach den Lebenden.“
Damals hatte sie nur die Augen verdreht. Sie war in New Jersey aufgewachsen, mochte Pumpkin Spice Latte und Serienmarathons, aber keinen Weihrauch oder Aberglauben. Opas alte Bräuche waren ihr peinlich, nicht gruselig.
Sie erinnerte sich noch, wie sie in der Schule nach Weihrauch gerochen hatte. Wie sie nie bei Freundinnen übernachten durfte, weil „das Haus rein bleiben musste“. Wie die anderen Kinder sie deswegen ausgelacht hatten.
Lina schob sich eine Handvoll Popcorn in den Mund und kaute laut. Die Gebetszettel klebten im flackernden Fernsehlicht an den Scheiben, die Schrift warf seltsame Schatten an die Wand. Unheimlich. Aber nur, weil sie aussahen wie vergilbte Einkaufslisten von vor zwanzig Jahren.
Auf dem Bildschirm öffnete sich die Kellertür mit einem quietschenden Geräusch.
„Viel Spaß dabei, abgestochen zu werden“, murmelte Lina.
Ihre Stimme war das einzige Geräusch im Raum. Der Kühlschrank brummte leise. Das Haus war still. Zu still. So still, dass es fast dröhnte.
Zum ersten Mal an diesem Abend fühlte sich die Stille nicht leer an, sondern als würde sie warten.
Sie rang sich ein Lachen ab, um die Anspannung zu lösen. Horrorfilme waren immer noch besser als diese bescheuerten Partys, auf denen betrunkene Jungs zu viel Aftershave auftrugen und einem ständig an die Wange fassten. Ihre beste Freundin Marisol war jetzt wahrscheinlich schon bei ihrem dritten Cocktail und schickte ihr wütende Nachrichten, dass sie eine Langweilerin sei – mit Auberginen-Emojis. Marisol fand, Linas Single-Dasein wäre ein Notfall. Als ob.
Ja, okay. Es war schon eine Weile her. Aber sich mit irgendeinem Typen aus der Klasse einlassen? Nein, danke. Marisol dachte, Lina wäre immer noch nicht über ihren Ex hinweg. Falsch gedacht. Sie war einfach nur wählerisch.
Lina rutschte auf dem Sofa hin und her und zog ihr Shirt über die kurzen Shorts. Zerzauste Haare, dunkle Augenringe, Gemütlichkeit statt Stil – der klassische Look einer Frau, die lieber auf der Couch hockte, als sich zu verkleiden.
Im Fernsehen tauchte der Killer aus dem dunklen Keller auf, das Messer blitzte auf. Die Kamera zoomte auf die weit aufgerissenen Augen des Mädchens, bevor die Klinge heruntersauste –
Klopf. Klopf.
Lina fuhr zusammen, die Popcornschüssel flog durch die Luft und der Inhalt verteilte sich über den ganzen Boden. Ihr Herz hämmerte wie verrückt.
Das Klopfen kam nicht aus dem Film.
„Ich habe keine Angst“, flüsterte sie und presste eine Hand auf ihre Brust. Auf dem Bildschirm kreischte das Mädchen angesichts eines billigen Schockeffekts. Lina wollte nicht wie dieses Mädchen enden.
Aber … wer klopfte um diese Uhrzeit? Niemand hatte vor, vorbeizukommen. Opa hätte angerufen, wenn er etwas vergessen hätte. Und er hätte ihr ganz sicher gesagt, sie solle an Halloween nicht die Tür öffnen.
Sie blickte zum Fenster. Einer der gelben Zettel bewegte sich, als würde unsichtbarer Atem darüberstreichen. Opa hatte behauptet, die Dinger würden heute Nacht die Geister fernhalten. „Heute suchen die bösen Geister nach den Lebenden.“
Sie schluckte. Sie glaubte doch längst nicht mehr an so einen Quatsch. Oder?
Klopf. Nur diesmal lauter. Die Tür vibrierte im Rahmen.
Ihr Blick huschte durchs Zimmer, bis sie den Baseballschläger ihres Bruders an der Wand entdeckte. Keine Ritterrüstung, aber besser als nichts.
Mit schwitzigen Fingern griff sie danach und schob sich vorwärts. Im Fernsehen schlich die Protagonistin mit zitternder Hand zur Kellertür, ein Messer in der Faust. Lina hätte fast gelacht. Sie waren in der gleichen Situation.
Ein weiteres, dumpfes Klopfen erschütterte die Hintertür.
„Ich hab keine Angst“, wiederholte sie leise.
Draußen war es stockdunkel. Keine Gestalt. Kein Schatten. Kein Gesicht. Nur dieses Klopfen. Ganz nah und unerbittlich.
Ihre Brust hob und senkte sich zu schnell. Sie packte den Schläger fester, legte die Finger um den kalten Türgriff und zog die Tür einen Spalt weit auf …
„Warte!“
Die Stimme klang heiser, verzweifelt. Kein Monster aus dem Film. Sondern ein Mann.
Er war groß und sein dunkles Haar klebte ihm schweißnass an der Stirn. Er hob beide Hände abwehrend, als erwartete er einen Schlag. Seine Augen – hellblau, fast unnatürlich – starrten sie an, gehetzt und wild.
Lina senkte den Schläger nicht. „Was willst du hier?“
„Ich …” Seine Stimme brach. „Keine Zeit für Erklärungen.“ Er warf einen Blick über die Schulter, als würde etwas im Dunkeln auf ihn lauern. „Dieses Haus … es ist sicher, oder?“
Ihre Augenbrauen schossen hoch. Sicher? Von allen möglichen Ausreden – Autopanne, falsche Adresse, betrunkener Student – wählte dieser Typ ausgerechnet diese.
„Es ist… ein Haus“, sagte sie trocken.
„Nein. Die Zettel. An den Fenstern. Die Gebetszettel. Ihr habt welche aufgehängt.“
Sie folgte seinem Blick. Das gelbe Papier bewegte sich leicht, Opas Schrift warf lange, zackige Schatten. Ihr Magen zog sich zusammen.
„Die meinst du?“, fragte sie.
„Ja.“ Er trat einen Schritt näher, sein Gesicht verzerrt vor Sorge. „Bitte. Sag mir, dass du noch mehr davon hast.“
Ihre Finger krallten sich fester um den Schläger. Religiöser Spinner. Klar. Was sonst.
„Hör mal“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Ich führe hier keinen Okkultismus-Laden. Wenn du gerade nicht wirklich in Lebensgefahr schwebst, verschwindest du jetzt besser.“
„Du verstehst nicht, ich brauche Hilfe.“ Seine Stimme war ein raues Flüstern und sehr dringlich. „Hast du noch mehr von den Zetteln? Oder … Amulette? Ich hab welche an deiner Tür gesehen. Bitte. Sag mir, dass du noch welche hast.“
Lina starrte ihn an. Gebetszettel. Amulette. Er sprach davon, als wüsste er genau, wie Opas Kram hieß.
Ein kalter Luftzug strich über ihre Schultern, obwohl die Tür fast geschlossen war. Einer der Zettel bauschte sich, als würde jemand dagegenhauchen.
Woher zum Teufel wusste er davon? Seine Augen – dieses seltsame, fast leuchtende Blau – bohrten sich in sie hinein.
„Verarschst du mich?“, fauchte sie, den Schläger immer noch erhoben. „Du willst Zauberpapier? Das hier ist kein Esoterik-Flohmarkt!“
Er rührte sich nicht. Aber etwas stimmte nicht mit der Art, wie seine Schultern zuckten, wie der Schweiß ihm den Nacken hinablief, obwohl es eiskalt war. Wie seine Finger sich krallten, als würden sie gegen etwas in ihm ankämpfen.
„Du kapierst es nicht. Es sind keine einfachen Gebete. Die halten etwas zurück. Die halten etwas drinnen. Wenn ich nicht … wenn ich nicht von ihnen umgeben bin … also von den Zetteln … dann bin ich bald nicht mehr ich.“
Sie presste den Schläger fester gegen ihre Schulter. Etwas zurückhalten? Etwas drinnen halten? Klang, als würde er darum bitten, in Handschellen gelegt zu werden.
„Klar“, sagte sie und versuchte, nicht zu zittern. „Und gleich erzählst du mir noch, dass Opas Geister-Post-its wirklich funktionieren und du dich gleich in einen Werwolf verwandelst.“
Seine Brust hob und senkte sich in kurzen, abgehackten Stößen. Der Gebetszettel am Fenster flatterte wieder, die Luft im Raum wurde schwer, als würde der ganze Raum den Atem anhalten.
Er sprach leiser, es war fast ein Flehen. „Bitte. Wenn du mir nicht hilfst, stirbt heute Nacht jemand.“
„Wenn du mir drohst, macht das die Sache nicht besser“, zischte Lina.
Ihre nackten Beine zitterten. Sollte sie einfach die Tür zuschlagen? Ihn mit dem Schläger bearbeiten? Allerdings fühlten sich beide Optionen falsch an.
„Ich…” Er presste eine Hand gegen sein Gesicht und zog sie wieder weg. Sein Atem ging stoßweise. „Ich bin nicht verrückt. Ich werde gleich zu einem Werwolf.“
Sie lachte – ein kurzes, nervöses Geräusch. „Ja, klar. Und ich bin die böse Stiefmutter aus dem Märchen.“
Er lachte nicht. Blinzelte nicht. Sein Hemd war dunkel vor Schweiß. Seine Schultern zuckten, als würde sein Körper gegen sich selbst kämpfen. Die Lampe auf der Veranda flackerte, summte, warf tanzende Schatten über sein Gesicht.
„Ich brauche die Gebetszettel“, krächzte er. „Und einen Ort, wo ich eingesperrt werden kann. Ketten. Handschellen. Irgendwas.“
Das Wort Gebetszettel ließ ihr den Magen zusammenkrampfen. Opas gelbe Zettel klebten hinter ihr an den Scheiben, die Schrift wirkte plötzlich dunkler, frischer, als wäre die Tinte noch nass. Für einen Moment bewegte sich die Schrift, die Zeichen schienen wie lebendig. Eine eisige Kälte kroch ihr den Rücken hinauf, und die Luft wurde so dick, dass sie kaum noch atmen konnte.
Sie hob den Schläger, richtete ihn auf seine Brust. „Verschwinde. Ich lasse dich nicht rein.“
„Lady …”
Seine Worte verformten sich zu einem Laut, der nicht menschlich war. Er sank auf die Knie, krallte die Finger in seinen Kopf. Ein Knurren drang aus seiner Kehle, tief, grollend, so laut, dass die Scheiben vibrierten. Die Gebetszettel bauschten sich auf, als würde ein unsichtbarer Wind sie packen. Das Verandalicht flackerte, wurde erst grell, dann schwach, als würde es gleich ausgehen.
Und als er den Mund öffnete, waren dort Zähne, die nicht ganz richtig schienen. Zu lang. Zu spitz.
Lina ergriff den Schläger so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Jeder Horrorfilm, über den sie je gelacht hatte, fühlte sich plötzlich real an.
Während sie wie erstarrt zusah, wuchsen seine Zähne, verzerrten sich und die Reißzähne schossen hervor – lange, glänzende, echte Fangzähne.
Echte.
















































