
Die Snowred-Saga Buch 1: Snowred
Ellie hätte nie gedacht, dass ihre Flucht damit beginnen würde, gejagt zu werden. Doch als Snowred – der berüchtigte, herzlose Werwolfkrieger – sie aus dem einzigen Leben reißt, das sie kennt, wird sie in ein verdrehtes Märchen aus Gefahr, Begierde und dunkler Magie gestürzt. Während eine böse Königin im Schatten die Fäden zieht, wird Ellie mehr als nur Beute – sie ist der Funke, der Snowreds Fluch zerschmettern könnte … oder sie beide dabei zerbricht.
Süße trifft auf Wildheit, Feuer auf Frost, und ihre Liebe brennt und blutet in gleichem Maße. Die eine sehnt sich nach Freiheit. Der andere nach Frieden. Die Königin will sie brechen. Doch das Schicksal könnte andere Pläne haben.
Willkommen im Wald. Hier ist nichts sicher – nicht einmal die Liebe.
Wunsch
ELLIE
Die Wolken über dem Eistal sind dunkel und hängen bedrohlich tief. Sie sehen aus, als könnten sie jeden Moment vom Himmel fallen und alles unter sich begraben.
Doch draußen tobt kein Unwetter, das dem Sturm in meiner Brust auch nur annähernd gleichkäme — einem Sturm, den diese düstere Wendung des Schicksals in mir entfacht hat.
Die Worte des Gerichtsboten hallen noch in meinen Ohren, obwohl er vor zehn Minuten gegangen ist. Oder war es länger? Die Zeit scheint stillzustehen. Nur das Gewicht des Briefes in meiner Hand fühlt sich echt an.
Meine Adoptivfamilie ist tot – die ganze Familie.
Sie kamen bei einem gewaltigen Lawinenabgang ums Leben, als sie zu ihrem Ferienhaus im vornehmen Teil des Königreichs Alma – wo die Königin residiert – unterwegs waren. Ihr Schlitten wurde zertrümmert und halb verschüttet am Rand einer Klippe gefunden.
Vorbei sind die Ohrfeigen, weil ich zu langsam war. Keine kalten Abendessen mehr, während die anderen essen. Keine Stille mehr, wenn ich weine. Keine blauen Flecken mehr. Keine Beleidigungen mehr. Keine Jahre mehr, in denen ich lernte, mich in Ecken zu verkriechen und unsichtbar zu sein.
Der Brief spricht von einem tragischen Unfall.
Aber ich kann zwischen den Zeilen lesen. Und ich sehe die Unterschriften.
Es ist die blutbefleckte Schrift am unteren Rand, die mir nicht aus dem Kopf geht. Sie wurde mit zittriger Hand geschrieben, die Tinte verwischt, panisch.
Diese Art von Angst habe ich oft gesehen – wenn ich in den Spiegel schaute, an ihrem Esstisch saß und hinter verschlossenen Türen zitterte.
Der Gerichtsbote zeigte kein Mitgefühl. Er überreichte mir lediglich die Mitteilung und einen Schlüssel.
„Wenn die Trauer vorüber ist“, sagte er emotionslos, „solltest du dich deinem Stand entsprechend kleiden. Du bist jetzt die Herrin dieses Anwesens, Ellie.“
Dann ging er, zog seinen Mantel eng um sich und schlug die Tür hinter sich zu, als könnte er nicht schnell genug verschwinden.
Ich sinke in den Schaukelstuhl am Kamin, wo ich gerade aus Not Socken gestrickt hatte – niemand hat mir je etwas geschenkt.
Die Holzhütte bietet nur das Nötigste. Genug zum Überleben, aber nicht zum Leben in Wohlstand.
Das Feuer knistert leise. Draußen fällt sanft Schnee gegen die Fenster. Ich kann mich nicht rühren.
Immer wenn mich diese Art von Panik überfällt, diese erdrückende Schwere der Verzweiflung, die mit dem Tod einhergeht, flüchte ich mich an einen sicheren Ort in meinen Gedanken.
Mein Zufluchtsort ist eine jahrhundertealte Erzählung, die mir zur Oase wurde, als mich genau diese Furcht verzehrte.
Als Kind war mein liebstes Volksmärchen Snowred.
Jeder im Tal kennt es. Es handelte von Königin Myrages bestem Krieger, einem Mann namens Snow.
Er konnte sich in einen grausamen weißen Wolf verwandeln, riesig und lautlos. Sein Fell war so weiß, dass er mit den Schneewehen verschmolz, sodass niemand ihn kommen sah.
Er war die Waffe der Königin – sie schickte ihn gegen ihre Feinde aus, und er kehrte stets mit einem Herzen zurück.
Die eifersüchtige Königin aus dem Nachbarreich.
Die Frau des Bäckers.
Die Magd.
Jede, die es wagte, ihre Schönheit zu überstrahlen oder ihre Macht zu bedrohen —
Snow erfüllte ihre Befehle und kam mit ihren Herzen zurück.
Der Teil der Geschichte, den ich am meisten mochte, war das Ende.
Snow hatte eine geheime Familie, die aus Gründen, die niemand kannte, gezwungen worden war, das Land der Königin zu verlassen.
Doch er hatte all die Zeit für sie gekämpft und sich um sein Kind und seine kranke Frau gekümmert.
Als die Königin sein Geheimnis entdeckte, stellte sie seine Loyalität auf die Probe, indem sie ihm befahl, seine Familie zu töten.
Schließlich würde er am Ende ja noch die Gunst der Königin behalten.
Sie war zu stark, und Snow blieb mit Narben von ihren katzenartigen Krallen zurück.
Aus Scham über sein entstelltes Gesicht zog er sich in die Wälder zurück und versteckte sich in den kältesten Teilen des Eistals.
Niemand weiß, was aus seiner Frau und seinem Kind wurde.
Diese Geschichte war Hunderte von Jahren alt.
Ich hasste die Königin, die noch heute lebt und über uns alle herrscht...
Aber ich liebte die Erzählung vom Krieger, der für seine Familie kämpfte.
Ich bin im Eistal aufgewachsen. Ich habe Snow gesehen, als ich ein Kind war.
Er hat mein Leben gerettet.
Zumindest... glaube ich das gerne.
Zehn Jahre sind seitdem vergangen.
Mittlerweile bin ich zwanzig Jahre alt.
Aber ich werde nie den tiefsten Winter vergessen, als ich zehn war und als Haussklavin an eine aristokratische Familie verkauft wurde.
Meine liebevolle Familie war bei einer Geschäftsreise außerhalb des Tals ums Leben gekommen.
Danach verwandelte sich alles in Nebel – nicht aus Trauer, sondern aus etwas Seltsamerem, Dichterem als Trauer.
Meine frühesten Erinnerungen sind schwer zu fassen, eingeschlossen in diesem Nebel, den ich nie lichten konnte.
Ich wusste nur, dass ich niemanden hatte. Nichts.
Und so wurde ich zur Sklavin der Nachbarn.
Ich hatte zwar ein Dach über dem Kopf, aber es war schrecklich, ihre Last zu sein.
Eines Nachts, nachdem ich einen Teller zerbrochen und man mir ins Gesicht geschlagen hatte, schlich ich barfuß in den Schnee hinaus. Es war mir egal, was passieren würde. Ich wollte einfach, dass es endete.
Ich bewegte mich vorwärts, bis meine Füße taub wurden und meine Beine nachgaben.
Ein weißer Wolf, dreimal so groß wie jeder, den ich je gesehen oder von dem ich je gehört hatte.
Lautlos. Regungslos. Er beobachtete mich.
Ich schloss die Augen, überzeugt, dass er mich mit nur einem Biss töten würde.
Und weißt du, was geschah?
Am nächsten Morgen wachte ich in meinem Bett auf. Warm. Geborgen. Ohne jegliche Erklärung.
Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob es real war oder nur ein Traum.
Aber ich musste daran glauben.
Ich begann, an ihn zu glauben. Nicht nur an den Wolf, sondern an den Mann. Den Beschützer. Dass er der war, der half, wenn mir sonst niemand zur Seite stand.
Denn ich klammerte mich an den Glauben, dass Snow mich gerettet hatte.
Ich wartete hoffnungsvoll auf den Tag, an dem das Leben mir ein weiteres kleines Wunder schenken würde, um mein Leid zu lindern. Den Tag, an dem er vielleicht zurückkehren würde.
In den Jahren danach überlebte ich durch die Güte der Dorfbewohner.
Kleine Zeichen dafür, dass die Welt nicht nur grausam war.
Ich fühlte mich wie eine heimliche Prinzessin des Dorfes.
In meinen Träumen sah er gleich aus: vernarbt, aber stark. Er würde zurückkehren, mit Frost noch an den Schultern an die Tür klopfen und mir sagen, dass er mich beschützen und zu seiner Frau nehmen wolle.
Es kursieren Gerüchte. Geflüster. Geschichten, die leise erzählt werden, über einen weißen Schatten im Wald.
Die Art von Geschichten, an die man nur glaubt, wenn man ihn schon einmal gesehen hat. Und ich frage mich unweigerlich, ob er der Grund dafür ist, dass alle tot sind.
Ist es möglich, dass er mich zweimal gerettet hat?
Also packe ich eine Tasche.
Denn wenn Snow real ist – und wenn er das getan hat –, muss ich ihm in die Augen sehen.
Ich weiß nicht, ob ich ihm danken will. Oder ihn anschreien. Oder ihn anflehen, zu bleiben.
Aber ich muss ihn finden. Und wenn ich in den Schnee hinausgehe, errege ich vielleicht seine Aufmerksamkeit.
Lieber suche ich nach ihm, als in diesem Schaukelstuhl zu sitzen und immer wieder an alle „Was-wäre-wenn“ und „Vielleicht“ nachzudenken.
Er hat mich schon einmal draußen in der Wildnis gerettet – vielleicht tut er es wieder.
Also los. Ich lasse mein Zuhause hinter mir, eine dünne Rauchsäule steigt aus dem Schornstein, als ich auf die Bäume zugehe. Die beißende Kälte fühlt sich hier härter an. Das Licht dringt nicht bis zum Waldboden.
Alles riecht nach gefrorener Rinde und Kiefern und etwas ... Wildem.
Je tiefer ich gehe, desto mehr Spuren sehe ich –abgebrochene Zweige hoch oben, als wären sie von etwas Größerem als einem Bären zerbrochen worden. Fußabdrücke, die sich in Krallenspuren verwandeln.
Er ist hier draußen. Ich weiß es einfach.
Ich laufe, bis meine Beine schmerzen, bis der Mond über den Bäumen leuchtet. Dann bleibe ich stehen.
Ich mache Feuer, meine Hände zittern mehr vor Aufregung als vor Kälte. Ich esse ein Stück Trockenfleisch und zwinge mich, Wasser zu trinken, doch schlafen kann ich nicht.
Mein Herz schlägt zu laut, meine Gedanken sind zu scharf.
Was, wenn er sich verändert hat?
Was, wenn ich mir das alles nur eingebildet habe?
Irgendwann gewinnt die Erschöpfung. Ich rolle mich unter meinem Umhang zusammen, das Feuer brennt niedrig, und falle in einen unruhigen Schlaf voller weißer Wölfe und scharfer Krallen.
Und dann wache ich auf.
Nicht wegen eines Geräusches. Nicht wegen einer Bewegung.
Sondern weil ich das überwältigende Gefühl habe, nicht allein zu sein.
Ich blinzle in das Feuerlicht, die Haare auf meinen Armen stellen sich auf, noch ehe ich ganz verstehe, warum.
Jemand ist hier.
Der Wind heult hinter ihm, aber er bewegt sich nicht.
Ein Mann.
Sein Schatten steht knapp außerhalb des Feuerkreises – groß, still, ruhig.
Und dann sehe ich sie.
Eine dicke Strähne weißblonden Haares.
Er spricht nicht.
Ich auch nicht.
Denn jede Geschichte, die ich für mich selbst erfand, steht direkt vor mir und beobachtet mich.
Als wäre er nie fortgegangen.
















































