
Auf dem richtigen Weg
Rebecca ist seit ihrem zweiten Lebensjahr Waise an der Lunar School of Excellence. Als geschickte und begehrte Fährtenleserin träumt sie davon, mehrere Angebote von prestigeträchtigen Rudeln zu erhalten. Doch als die Angebote kommen, gibt es nur eines – und zwar von Titan, dem einzigen Rudel, dem sie aufgrund einer langjährigen Fehde gegen dessen Alpha geschworen hat, niemals beizutreten.
Alpha Ryder Paxton hingegen schickt seinen Beta zur LSOE, um nach einer Fährtenleserin zu suchen, und entscheidet sich, die Reise selbst zugunsten eines Nachmittags mit einer mysteriösen, faszinierenden Wölfin auszulassen. Eine Entscheidung, die er bald bereuen wird.
Doch dann geschieht das Undenkbare....
Kapitel 1
REBECCA
Der Wind heulte durch die hoch aufragenden Kiefern, die das weitläufige Gelände der Schule säumten, und ließ die Äste hin und her schwingen. Starke Böen peitschten gegen die Gebäude. Eine heftige Brise erfasste mein Haar und ließ es mir ins Gesicht wehen, sodass ich kaum noch etwas sehen konnte. Ungeduldig strich ich es zurück. Ich durfte keine Zeit verlieren. Die Prüfungen heute, am Tag der offenen Tür, waren meine einzige Chance, mich zu beweisen.
Dieser Ort war einst ein großes, prächtiges Herrenhaus gewesen, doch nun diente das Anwesen als Zuflucht und Schule für Waisen – die Lunar School of Excellence, kurz LSOE.
Ich lebte seit meinem zweiten Lebensjahr hier und hatte schon viele Tage der offenen Tür miterlebt. Doch dieses Jahr war es endlich so weit, ich konnte endlich selbst daran teilnehmen. Es gab verschiedene Prüfungen, aber ich machte nur an einer teil – dem Fährtenlesen.
Wenn ich gut abschnitt, konnte ich mir einen Platz in einem Rudel verdienen, das sechzehn Jahre Lebenshaltungskosten abdecken und mir ein neues Leben ermöglichen würde. Wenn nicht … nun, dann blieb ich wohl für immer hier.
Mir war flau im Magen, während der Wind weiter um mich peitschte. Ich machte mich auf den Weg zum Übungsplatz, wo meine Freunde Dane und Ivor, ebenfalls angehende Fährtenleser, bereits warteten.
Da blieb mein Blick kurz an einer Zeitung hängen, die wohl jemand bei einem der Kampftests vorher achtlos liegen gelassen hatte. Ich hob sie auf. Schüler der LSOE bekamen nie Zugang zu so etwas.
Der Rest war unwichtig. Okay, das waren drei Rudel, von denen ich mich fernhalten musste. Schlechte Nachrichten, denn die Rudel Orion, Phoenix und Maverick waren groß und einflussreich.
Ich wusste bereits, dass ich mich vom Titan-Rudel fernhalten musste. Das hatte ich mir mit sechs Jahren geschworen, gleich nach dem demütigendsten Tag meines Lebens. Und ich hielt meine Versprechen.
Bereit?“, fragte Ivor, als ich das Testgelände erreichte. Er wippte aufgeregt auf den Füßen und sah in die Menge.
„Ich wurde bereit geboren“, antwortete ich.
Dane musterte mich einmal von oben bis unten und verzog das Gesicht in gespielter Missbilligung. „Bitte. Alles, was du hast, ist ein freches Mundwerk.“
„Liegt daran, dass mein Gehirn auf Hochtouren läuft – deins eher nicht so sehr“, konterte ich lächelnd und brachte Ivor damit zum Lachen.
Dane verdrehte die Augen und wechselte das Thema. „Ich weiß, du hasst das Titan-Rudel , Rebecca, aber ich würde mich riesig über ein Angebot von denen freuen. Alpha Ryder war der Erste, der hier aufgetaucht ist, der braucht dringend einen Fährtenleser.“
Ich schnaubte verächtlich. „Wenn es dir völlig egal ist, dass er mir als Kind das Leben ruiniert hat-“
„Er war doch selbst noch ein Kind“, unterbrach mich Dane.
„Er wurde freigesprochen. Notwehr“, bemerkte Dane.
„ Dann interessiert es dich vielleicht wenigstens, dass er jetzt wegen Geldwäsche oder so was unter Verdacht steht. Ich habe es gerade erst gelesen. Wahrscheinlich kann er sich gar keinen neuen Fährtenleser leisten.“ Ich klang beinahe triumphierend.
„Geldwäsche?“, fragte Dane verwirrt. „Was meinst du damit?“
„Ich kenne nicht alle Details“, gab ich zu. „Man sagt, er und drei andere Alphas hatten gestern ein großes, geheimes Treffen im Palast. Natürlich streitet er wie immer alles ab.“
„Komm schon, Rebecca“, mischte sich Ivor ein. „Nur weil du ihn nicht magst, heißt das nicht, dass er zu den Bösen gehört. Warum sollte er überhaupt hier sein, wenn er sich keinen von uns leisten kann?“
„Um gesehen zu werden. Und um mir das Leben schwer zu machen“, murmelte ich düster und vermied es bewusst, in seine Richtung zu schauen. Ich musste mich konzentrieren. Die Prüfung würde bald beginnen, und ich konnte es mir nicht leisten, mich von alten Wunden ablenken zu lassen.
.
Ugh. Das war eine unwillkommene Ablenkung. Jetzt war wirklich der allerschlechteste Moment, meinem Gefährten zu begegnen. Denn sobald ich ihn fand, müsste ich seinem Rudel beitreten. Selbst wenn es eines der kleinen war, das nicht für mich zahlen konnte.
Und was, wenn mein Gefährte nicht wollte, dass ich herausfand, was mit meinen Eltern passiert war? Ich brauchte diese Antworten unbedingt.
Bevor Setara mehr sagen konnte, rief Direktor Dempsey: „Fährtenleser, bitte hierher.“ Er winkte uns zum Startbereich – ein abgesperrtes Gebiet neben dem Anmeldetisch.
Nur vier Fährtenleser nahmen teil: Neben Dane, Ivor und mir war da noch Kelly, eine Sechzehnjährige, die übte, aber noch keine Angebote annehmen würde.
„Erste Aufgabe: Ihr habt fünfzehn Minuten, um die andere Hälfte dieses Stoffstücks zu finden. Jeder darf einmal daran riechen und wartet dann auf mein Signal“, erklärte er laut, auch wenn der Wind seine Worte fast forttrug.
Wir rochen alle an dem Stoff und bereiteten uns darauf vor, uns in Wölfe zu verwandeln. Die andere Stoffhälfte war irgendwo im Wald versteckt, und der erste Fährtenleser, der sie fand, würde fünfzig Punkte bekommen.
Direktor Dempsey hob seine Hand, startete die Stoppuhr und brüllte: „LOS!“
Ich zog mich schnell aus, und Setara preschte vor, direkt in den Wald hin. Eine Lehrkraft, deren Duft durch ein spezielles Gel maskiert war, bewachte das Versteck, um den Gewinner zu verkünden.
Wir hatten das Dutzende Male geübt, Setara wusste, was zu tun war. Sie rannte voraus und änderte geschickt die Richtung, um Ivor und Dane zu täuschen – die beiden würden weit am Ziel vorbeilaufen.
Ivor und Dane kehrten um, sobald sie die Täuschung bemerkten, doch Setara war bereits im vollen Sprint. Sie kreuzte durch die Bäume, bevor sie auf die Lichtung raste und an der Stelle grub, wo der Stoff vergraben war.
Frau Halbert hob die Hand zur Bestätigung. „Gut gemacht, Rebecca und Setara – acht Minuten und einundvierzig Sekunden“, sagte sie lächelnd und gab dem Direktor gedanklich schnell die Ergebnisse durch.
Wir liefen zurück zum Hauptbereich, und ich war dankbar, in Wolfsgestalt zu sein. So konnte niemand sehen, wie ich rot wurde, als alle klatschten. „Rebecca bekommt fünfzig Punkte für den ersten Test“, verkündete Dempsey laut.
„Zieht euch um, in fünf Minuten geht’s weiter!“, wies uns Direktor Dempsey an. Bei der nächsten Aufgabe würden wir in Menschengestalt bleiben.
Ich eilte in mein Zimmer und zog mich hastig an. Ich war besorgt, als ich wieder nach draußen ging. Ich brauchte die nächsten Punkte mehr als Ivor oder Dane – und ausgerechnet bei dieser Prüfung waren sie mir überlegen.
Wir alle wussten, was jetzt kam: Wir mussten Herrn Davidson finden. Genau wie Frau Halbert war sein Duft verborgen, also war visuelles Spurenlesen gefragt. In den Übungsrunden hatte er kaum Spuren hinterlassen.
Dempsey hob erneut die Hand. „Fährtenleser – ihr habt fünfzehn Minuten, um Herrn Davidson zu finden. Auf mein Zeichen… LOS!“
Dieses Mal stürmten wir nicht sofort los, sondern suchten aufmerksam zwischen den Büschen und am Boden nach einer Spur. Ivor war bei dieser Prüfung der Experte, also beobachtete ich ihn genau, als er sich langsam entfernte und dann im Wald verschwand.
Ich folgte ihm mit einigem Abstand.
Setara und ich würden diesmal nicht gewinnen, das wusste ich. Verzweifelt beobachtete ich, wie Dane und Kelly sich jeweils in andere Richtungen aufmachten.
Setara entdeckte es als Erste: ein geknickter Zweig mitten in den dichten Sträuchern.
Ich verlangsamte meinen Schritt und musterte das Dickicht. Der Boden war fest, es waren keine Fußabdrücke zu sehen, aber auf Augenhöhe war ein Büschel Haar, in einem Ast verfangen.
Mein Puls raste – wir waren nah dran.
Ivor war uns dicht auf den Fersen, was mich noch mehr antrieb. Ich musste Herrn Davidson zuerst finden. Ein perfektes Ergebnis würde mich zur Top-Kandidatin machen. Und das musste reichen, um von einem Rudel aufgenommen zu werden.
Ich lief jetzt schneller und übersah dabei fast die abgeknickten Zweige zwischen zwei Sträuchern. Ein Richtungswechsel. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich auf eine Lichtung trat. Fieberhaft suchte ich nach einem weiteren Hinweis.
Ich hielt inne, ließ den Blick über den moosbedeckten Waldboden schweifen – und dann sah ich sie: Fußspuren, kaum sichtbar, in das Moos gepresst, rund um eine Kiefer.
Ich hob den Kopf, und da saß er, beinahe unsichtbar, auf einem der Äste. „Nicht schlecht, wirklich nicht schlecht“, lobte Herr Davidson. „Du hast endlich verstanden, wie es funktioniert.“
Ivor platzte kurz danach dazu, sein Blick sprach Bände.
„Zurück zum Platz, ihr zwei“, meinte Davidson und sprang geschmeidig vom Baum.
Ich machte mich auf den Rückweg, Ivor dicht hinter mir. „Wie zur Hölle hast du das gemacht?“, fragte er ungläubig. „Du bist an mehreren Spuren einfach vorbeigelaufen …“
„Ich hab’s gewagt und hatte wohl einfach Glück“, antwortete ich.
Kaum angekommen, rief Dempsey laut: „Und wieder fünfzig Punkte für Rebecca – unsere beste Fährtenleserin.“
Wahrscheinlich war er nicht gerade begeistert davon, mir die Spitzenposition zuzugestehen. Er hatte mich schon als kleines Kind auf dem Kieker, denn angeblich war ich ein Problemfall. Das war alles nur Alpha Ryders Schuld.
Immerhin bedeutete das auch, dass er mich genauso schnell loswerden wollte, wie ich hier weg wollte.
Er kam eiligen Schrittes auf mich zu, ein professionelles Lächeln aufgesetzt. „Rebecca, ich freue mich, dir Alpha Ryder vom Titan-Rudel vorstellen zu dürfen. Er war sehr beeindruckt von deiner Leistung und möchte dir ein Angebot machen.“
Ich brauchte einen Moment, um die Worte zu begreifen, denn mein ganzes Denken wurde überlagert von einem intensiven, betörenden Duft, der vom Mann neben Dempsey ausging. Und dann begriff ich. Oh. Oh nein. Nein, nein, nein.
Aber jetzt … Das Schicksal hatte offenbar ganz andere Pläne.














































