
Ich stoße einen leisen Schrei aus, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, ihn umdrehe und die Tür weit öffne.
Ich greife nach der Tür, bereit sie zuzuknallen, zögere aber.
Vorsichtig schließe ich die Tür, verriegele sie und schiebe zur Sicherheit eine kleine Kommode davor.
Mein Herz rast wie wild. Ich zittere am ganzen Körper und bin schweißgebadet. Mir ist schwindelig und ich ringe nach Luft.
Jeder Atemzug klingt wie ein Pfeifen.
Ich rutsche an der Wand hinunter, umklammere meine Knie und lege den Kopf darauf. Um mich zu beruhigen, zwinge ich mich zu zehn langsamen, tiefen Atemzügen, während mir Tränen übers Gesicht laufen.
Mit jedem Zug wird meine Atmung ruhiger und mein Herzschlag verlangsamt sich. Ich stoße einen langen Seufzer aus.
Es könnte irgendein Betrunkener gewesen sein. Aber ob Mensch oder Wolf, ich bin trotzdem ein leichtes Opfer, ein schwaches Omega. Nicht mal einen großen Hund könnte ich abwehren. Frustriert puste ich die Luft aus.
Plötzlich schmerzen meine Beine höllisch und erinnern mich daran, dass ich barfuß durch den Schnee gerannt bin.
Ich schleppe mich ins Bad, jeder Schritt fühlt sich an, als würde ich über Glasscherben laufen. Während ich die Wanne mit heißem Wasser fülle, sehe ich, dass meine Füße völlig durchgefroren sind.
„Scheiße! Nein, ist schon okay, Jade. Atme einfach. Du weißt, was zu tun ist", rede ich mir selbst gut zu.
Als Werwolf heile ich zwar schneller als ein Mensch, aber Verletzungen tun trotzdem weh und können sich entzünden oder bleibende Schäden verursachen, wenn man sie nicht behandelt.
Ich prüfe, ob das Wasser heiß genug ist, bevor ich meine Füße hineintauche. Ich setze mich auf den Wannenrand und lehne meinen Kopf an die Wand. Meine Füße sind so taub, dass ich das heiße Wasser nicht spüre.
Etwa eine halbe Stunde sitze ich da und versuche mich zu entspannen. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und das stetige Tropfen des undichten Wasserhahns.
Als ich meine Füße wieder spüre, steige ich aus der Wanne, ziehe mein Kleid aus, schlüpfe in einen weichen Bademantel und dicke Wollsocken, um meine Füße warm zu halten. Ich schaue auf die Uhr.
Schnell erledige ich meine Abendroutine im Bad und gehe ins Schlafzimmer. Als ich mich ins Bett lege und die Decke über mich ziehe, höre ich in der Ferne ein Heulen.
Falls der Typ in der Gasse ein Wolf war, hat er mich vielleicht gewittert und würde mich wiedererkennen.
Ich bin weggelaufen, als er versucht hat, meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist in unserer Welt ein absolutes No-Go. Wenn er mich jemals findet, stecke ich in der Klemme.
Meine bisherigen Erfahrungen mit anderen Wölfen, besonders den dominanten, waren nicht gerade rosig. Die Erinnerungen lassen meinen Atem stocken und meine Brust eng werden. Ich wälze mich stundenlang im Bett, bevor ich endlich einschlafe.
Am nächsten Morgen wache ich völlig gerädert auf. Mein ganzer Körper schmerzt. Langsam strecke ich mich und spüre, wie das Blut durch meine steifen Muskeln fließt.
Mein Kopf ist wie Watte und es dauert einen Moment, bis ich mich an die Ereignisse des Vortages erinnere. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich war schon vorher sehr nervös und brauche nicht noch mehr Stress.
Ich atme tief durch und versuche, mich zu beruhigen.
Ich rolle mich zur Seite, setze mich auf die Bettkante, ziehe meinen Bademantel an und gehe in die Küche. Ich mache mir einen Kaffee, setze mich an den Küchentisch und schaue aus dem Fenster.
Während ich die heiße Tasse in den Händen halte, beginne ich nachzudenken. Der Wind, der gestern Nacht noch so laut heulte, ist jetzt nur noch eine sanfte Brise, die kaum die Baumwipfel bewegt.
Die Sonne scheint auf den frischen Schnee und lässt ihn wie winzige Diamanten funkeln. Der Anblick zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht und ich seufze zufrieden. Glückliche Momente sind selten in meinem Leben, also genieße ich diese kleinen Freuden.
Plötzlich fällt mir etwas Seltsames vor dem Fenster auf. Quer über meinen kleinen Vorgarten zieht sich eine merkwürdige Vertiefung im Schnee, umgeben von kleineren Abdrücken. Es sieht aus wie alte Fußspuren, die von Neuschnee bedeckt wurden.
Neugierig öffne ich das Fenster, um besser sehen zu können. Die große Vertiefung ist so riesig, dass es fast aussieht, als hätte über Nacht ein Pferd auf meinem Rasen gespielt. Aber das ist unmöglich, es gibt keine Pferde in dieser Gegend.
Ich trinke meinen Kaffee aus und gehe ins Bad. Als ich meinen Bademantel an den Haken hänge, sehe ich mich im Spiegel. Mein Hintern ist immer noch wund vom Sturz auf dem Eis.
Meine dunklen Locken sind ein einziges Chaos, wie ein Vogelnest. Meine Füße sind rot und wund, mein Hintern schmerzhaft lila. Ich sehe aus wie eine verrückte Puppe!
Ich muss ein wenig über mein Aussehen lachen. Ich könnte heulen, aber was würde das bringen?
Ich bin in jeder Hinsicht ziemlich durchschnittlich. Ich bin 1,68 m groß, weder besonders groß noch klein. Meine Hüften und mein Po sind etwas üppiger als das Ideal, meine Taille etwas schmaler. Aber das fällt niemandem auf, zumal ich immer zu weite Kleidung trage.
Mein Gesicht ist gewöhnlich, nichts Besonderes. Ich habe schlichte, dunkelbraune Augen, blasse Haut und eine Menge krauses Haar, das knapp über die Schultern fällt. Ich habe zwar zwei Grübchen, aber die zeigen sich nur, wenn ich lächle, was ich zu vermeiden versuche. Nicht dass es jemand bemerken würde. Nicht dass es eine Rolle spielt. Ich bin durchschnittlich. Unsichtbar. Nichts Besonderes.
Ich habe akzeptiert, dass ich nie etwas Bedeutendes tun werde, und das ist okay. Es hält mich sicher.
Vielleicht habe ich Glück und finde einen guten Mann zum Heiraten. Alles, was ich will, ist jemand Freundliches und Sanftes. Ich hatte genug Schlimmes in meinem Leben und brauche nicht noch mehr davon.
Wie die meisten jungen Mädchen habe ich früher davon geträumt, meinen besonderen Gefährten zu finden, der mich beschützen, lieben und umsorgen würde. Ich träumte davon, dass er mich vor den bösen Menschen retten würde.
Aber das waren nur Kindheitsträume. Das echte Leben ist kein Märchen.
Es gibt Geschichten von Gefährten, die sich an weit entfernten Orten finden, sogar auf verschiedenen Kontinenten. Aber ich weiß, dass ich meinen nie finden werde. Das habe ich vor Jahren akzeptiert. Wer würde schon jemanden so Gewöhnliches und Schwaches wie mich wollen?
Er würde wahrscheinlich davonlaufen. Oder schlimmer noch, er könnte einer dieser kontrollsüchtigen, gemeinen Typen sein. Ich wäre lieber für den Rest meines Lebens allein, als ständig in Angst vor demjenigen zu leben, den ich eigentlich lieben sollte.
Ich weiß, dass die Gefährtenbindung uns beide angeblich beschützen soll, aber würde das den Kontrollzwang aufhalten? Ich weiß es nicht und habe Angst, es herauszufinden. Am sichersten bin ich allein.
Mein Haus liegt am Rand des Rudel-Gebiets, am nächsten zur Menschenstadt. Je höher der Rang, desto näher lebt man am Rudelhaus im Zentrum.
Ich arbeite in der örtlichen Pension, auf halbem Weg zwischen meinem Haus und dem Rudelhaus. Die Gäste sind meist Besucher aus anderen Rudeln, vor allem ältere Paare. Die jüngeren, alleinstehenden Reisenden bleiben normalerweise im Rudelhaus.
Ich befeuchte mein Haar über der Badewanne und versuche, die Knoten mit den Fingern zu entwirren. Danach gebe ich etwas Gel hinein und knete es mit einem T-Shirt, um die Locken in Form zu bringen.
Ich wasche mein Gesicht und ziehe meine Arbeitskleidung an - schwarze Hose und ein schlichtes graues Shirt mit dem Logo des New Moon Inn. Es ist bequem und die Einfachheit hilft mir, nicht aufzufallen.
Ich eile in die Küche, schnappe mir einen Müsliriegel und ziehe dann meine Schneestiefel an. Mein alter Wintermantel fühlt sich schwer an, als ich meine flauschigen Fäustlinge überstreife.
Mit meinen wichtigsten Sachen in den großen Manteltaschen gehe ich nach draußen und schließe die Haustür ab.
Als ich mich umdrehe, um zur Arbeit zu gehen, kann ich nicht anders, als die Spuren im Schnee zu betrachten.
Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch, bevor ich in Richtung Pension loslaufe. Obwohl es bitterkalt ist, hat der Wind aufgehört und die Sonne wärmt meine Wangen ein wenig. Ich vergrabe mein Kinn im Mantel und gehe weiter.
Der frische Schnee knirscht unter meinen Stiefeln und ich kann meinen Atem in der kalten Luft sehen. Ich gehe die ruhige Straße entlang und denke über die Gasse nach.