Al Holland
„Schwester Hendry“, sagte der Muskelprotz und nickte ihr zu. Sein Lächeln wirkte ohne die grellen Krankenhauslichter viel angenehmer.
„Sie kennen meinen Namen?“, fragte sie überrascht.
Er lachte leise. „Klar, Sie fallen auf wie ein bunter Hund.“ Seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht.
Für einen Moment fühlte sie sich verunsichert. War das negativ gemeint?
In der Schule hatten die Kinder sie früher Kaugummikopf genannt, wegen ihrem unausstehlich rotblonden Haar. Oder vielleicht war ihm aufgefallen, wie bestimmend sie im Krankenhaus manchmal sein konnte. Sie konnte manchmal etwas herrisch sein, dachte sie.
„Sie waren heute ein echter Wirbelwind. Ziemlich bemerkenswert“, sagte er mit einem aufrichtigen Lächeln und leicht geröteten Ohren.
„Oh“, erwiderte sie und versuchte, ihre Freude über das Kompliment zu verbergen. „Danke schön.“
„Travis Knightley“, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie klemmte sich die Post unter den Arm, um seine Hand zu schütteln. „Lara Hendry.“
„Das wusste ich schon“, scherzte er.
Laras Gesicht rötete sich vor Verlegenheit. Sie schaute den Flur hinunter und fragte sich, ob sie dem Elend, das durch ihre eigene Unbeholfenheit verursacht wurde, ein Ende setzen sollte, als Travis ihr aus der Patsche half.
„Möchtest du auf einen Tee reinkommen?“, fragte er. „Es sei denn, du bist zu müde, natürlich.“
Vor fünf Minuten war sie noch todmüde gewesen. Aber jetzt? Wie könnte sie dieses Angebot ablehnen? Es wäre doch nett, nachbarschaftlich zu sein, oder?
Seine beeindruckenden Armmuskeln schadeten auch nicht gerade.
Wenige Minuten später saß Lara in Travis' gemütlicher Wohnung, hielt eine Tasse Tee in den Händen und genoss die Wärme. Sie genoss es, mit ihm Tee zu trinken und über Belanglosigkeiten zu reden.
Sie fand heraus, dass Travis erstaunlich süß war – und sehr schnuckelig, was sie schon vorher gewusst hatte, aber seine Herzlichkeit machte ihn noch attraktiver.
„Wie lange arbeitest du schon im KGH?“, fragte Lara, bevor sie vorsichtig einen Schluck des dampfenden Tees nahm.
„Ich arbeite ehrlich gesagt als Springer in verschiedenen Krankenhäusern in der Gegend, ich wechsle zwischen vier verschiedenen. Das mache ich jetzt schon seit ein paar Jahren. Es kann an manchen Tagen anstrengend sein, aber das muss ich dir ja nicht erzählen. Ich helfe einfach gerne Menschen, weißte?“
Das war etwas, das sie miteinander verband. Es war Laras Lieblingsteil des Jobs: jemandes Problem zu lösen und zu sehen, wie glücklich es sie machte, egal, wie klein das Problem war.
„Medizin ist einfach so faszinierend“, schwärmte sie und erzählte ihm, wie sie Trauma-Krankenschwester wurde. „Es gibt immer etwas Neues zu lernen, ein neues Problem zu lösen. In der Trauma-Abteilung kann es manchmal sehr hektisch sein, aber ich habe noch nie zweimal genau das gleiche Problem gesehen.“
Das brachte Travis zum Lachen. „Das klingt nach etwas, das ein Arzt sagen würde.“
Lara blickte auf ihre Tasse hinunter. „Eines Tages vielleicht“, sagte sie hoffnungsvoll. „Was ist mit dir? Irgendwelche großen Zukunftspläne?“
„Ich mag meinen Job. Er ist beständig, ich kann Menschen helfen, und als Springer arbeite ich keine vollen Wochen. Ich besitze sogar eine Landschaftsgärtnerei.“ Er zeigte auf eine beige Mütze mit einem Blatt-Logo, die an der Tür hing. „Wir arbeiten auch viel mit der Regierung an der Wiederaufforstung.“
Lara starrte ihn ungläubig an.
Er lachte wieder und verschluckte sich fast an seinem Tee. „Warum schaust du mich so an?“
Sie konnte ihr eigenes Lächeln nicht unterdrücken. „Du bist also ein unverbesserlicher Weltverbessererl, hm?“
„Was soll ich sagen?“, seufzte er versonnen. „Nicht alle Helden tragen Umhänge, schätze ich.“
Lara verdrehte die Augen, war aber dennoch seinem Charme verfallen „Nein, sie tragen anscheinend Kasacks.“
Bald gähnten beide in ihre leeren Tassen, was zeigte, dass es Zeit war, ihr Gespräch zu beenden.
„Vergiss deine Post nicht“, sagte Travis, als Lara zur Tür ging, und er griff nach dem dürftigen Stapel auf dem Tisch, um ihn ihr zu geben. „Oh, der hier ist für Zavien.“
Die Erinnerung an den falsch adressierten Brief rüttelte sie wach.
„Du kennst ihn?“, fragte sie, als sie die Briefe aus Travis' ausgestreckter Hand nahm.
„Ja, er wohnt in Apartment 32D, direkt gegenüber von dir. Geht nicht viel raus, ein bisschen ein Einsiedler, aber hey, zumindest ist er ruhig.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Ah ja.“ Lara betrachtete den gedruckten Namen. Nur ein einfacher Tippfehler also, entschied sie. Sie würde ihm eine Nachricht hinterlassen und ihn höflich bitten, das zu korrigieren, dann wäre alles in Ordnung. „Also, auf Wiedersehen dann“, sagte sie und schenkte Travis ein letztes Lächeln.
Travis’ Tür schloss sich leise hinter ihr, und sie blickte noch einmal zurück, lächelnd, weil er nur wenige Apartments entfernt wohnte.
Vor ihr öffnete sich eine Tür, was sie nach vorne blicken ließ, und ein Mann trat in den Flur. Laras Augen fokussierten sich auf ihn, als er auf sie zuschlurfte. Er ging etwas gebeugt, aber das verbarg seine Größe kaum.
Tatsächlich war das der einzige Teil von ihm, der nicht völlig verborgen war.
Er trug eine dunkle Baseballkappe tief in die Stirn gezogen und eine schwarze Gesichtsmaske, die den Rest seines Gesichts bedeckte. Diese Dinge plus seine dunkle Kleidung schienen alles Licht um ihn herum zu verschlucken.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie konnte nur ihn sehen, und sie blieb stehen, was ihr Starren wahrscheinlich noch offensichtlicher machte, aber sie konnte nicht anders.
Als er an ihr vorbeiging, sah er sie an, seine dunklen Augen trafen für einen Moment ihre und ließen sie den Atem anhalten. Nach einem kurzen Nicken wandte er den Blick ab und bog um die Ecke zu den Aufzügen.
In dem Moment, als er aus ihrem Blickfeld verschwand, schienen Licht und Luft in den Flur zurückzukehren.
Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären, atmete zweimal tief durch und verbuchte ihre Reaktion als Müdigkeit. Während sie weiterging, versuchte sie, das Gefühl zu vergessen, das er in ihr ausgelöst hatte.
Erst als sie ihre Tür erreichte, wurde ihr klar, dass die Wohnung, aus der der Mann gekommen war, direkt gegenüber von ihrer lag – 32D.
Wo Zavien Crane laut Travis wohnte.
Das ist der Typ, mit dem ich mich rumschlagen muss? Der Gedanke, von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen zu müssen, jagte ihr Angst ein, also beschloss sie, etwas anderes zu tun.
Mit einem Seufzer schob sie das ungute Gefühl in ihrer Brust beiseite und nahm einen Block rosa Haftnotizen aus ihrer Tasche. Sie schrieb ihre Bitte für ihn auf und bückte sich, um sie unter seiner Tür durchzuschieben.
Sie beugte sich tief hinunter und blickte auf den Spalt über dem Boden, wo sie glaubte, ein Licht zu sehen und leise Musik zu hören. Sie hielt inne.
Vielleicht wohnt er mit jemandem zusammen?
Immer noch in der Hocke klopfte sie dreimal und wartete.
Nichts.
Den Atem anhaltend, schob sie den Umschlag unter der Tür durch und wischte sich dann die Hände ab, froh, mit Zavien Crane und seiner falsch zugestellten Post fertig zu sein.