Suri Sabri
LYDIA
"RENN!"
Lydia und Lux rannten so schnell, wie ihre Füße und Pfoten sie tragen konnten. Der dunkelgraue Werwolf, bedeckt mit Blutflecken eines früheren Opfers, sprang auf sie zu, gewann an Geschwindigkeit und leckte sich die Wunden.
Sie waren im Begriff, die nächste Mahlzeit dieses Monsters zu sein, wenn Lydia nicht etwas tat – und zwar schnell. Sie wusste, was sie zu tun hatte, aber würde sie die Kraft dazu haben?
Flammen umkreisten Lydias Hände, als sie anhielt, sich umdrehte und den Feuerball auf die Bestie warf. Aber mit einer Welle seiner Klaue lösten sich die Flammen auf.
Oh nein.
Eine Sekunde später stürzte sich der Werwolf auf Lydia und drückte sie auf den Waldboden. Wäre da nicht der schummrige Feuerschild gewesen, mit dem sie ihren Körper in letzter Sekunde umgeben hatte, hätte er ihr bereits den Hals aufgerissen.
Sie konnte seine hungrigen gelben Augen sehen, die verzweifelt nach Nahrung verlangten. Irgendwo im Inneren des Werwolfs war ein gequälter Mann. Der Mond war heute Nacht voll und erlaubte der Bestie zu herrschen.
Lydia fragte sich, ob sie zu ihm durchdringen konnte ... wer auch immer er war.
Er stürzte sich weiter auf sie und biss zu, aber ihr Schild hielt ihn in Schach. Sie wusste, dass es nicht mehr lange halten würde. So viel Energie war darauf verwendet worden, den Dieb zu fangen und hierher zu teleportieren.
"Lydia!"
Sie drehte sich um und sah, wie Lux auf sie zuhüpfte und zu helfen versuchte.
"Lux, nein!"
Aber sie war zu spät. Der Werwolf stürzte sich auf den Kater, schlug ihm eine Pfote gegen die Brust und ließ ihn davonfliegen. Er prallte gegen einen Baum und knallte auf den Boden.
"NEIN!"
Mit einem Mal schlugen Flammen aus jeder Pore von Lydias Körper und warfen den Werwolf in die Luft. Sie hielt nicht an, um zu sehen, wo die Kreatur gelandet war. Stattdessen huschte sie zu ihrem Katzenfreund hinüber und wiegte ihn in ihren Händen.
Er miaute leise, verletzt und lebendig.
"Es tut mir so leid, Lux", flüsterte sie, Tränen füllten ihre Augen.
Aber dann hörte sie das Heulen des Werwolfs. Er kam, um zu beenden, was er angefangen hatte. Er hüpfte auf sie zu.
Und dieses Mal hatte Lydia keine Magie mehr, um ihn abzuwehren.
Sie schloss ihre Augen und drückte Lux fest an ihre Brust, schaukelte gegen den Baum hin und her. Wenn das das Ende war ... dann war sie wenigstens nicht allein.
Der Wolf war nur ein paar Meter entfernt. Sie konnte hören, wie seine Klauen auf die Erde schlugen. Die heiße Luft seines stinkenden Atems riechen. Das Eisen des nahen Todes auf ihrer Zunge schmecken.
Es sollte alles vorbei sein. Doch gerade als die Reißzähne des Wolfes sich um ihre Kehle legen wollten, geschah etwas Unmögliches.
Er ist eingefroren.
Eine dunkle, illusionäre Gestalt hielt den Werwolf zurück. Ein Retter, gemacht aus Schatten. Aber wer war er?
GABRIEL
Es dauerte nicht lange, bis Gabriel sie fand. Sein geistiges Auge hatte ihn geleitet und zu dieser abgelegenen Wiese im Imarnianischen Wald gebracht.
Sobald er sich materialisiert hatte, sah er, dass das Mädchen in der Tat in tödlicher Gefahr war. Ein Werwolf war so kurz davor, Hackfleisch aus ihr zu machen.
Warum sie ihre Himmelsdrachen-Kräfte nicht zum Töten eingesetzt hatte, konnte Gabriel nicht verstehen. Vielleicht war sie nicht so stark, wie sie ursprünglich erschien.
Das spielte jetzt keine Rolle. Sie zu retten, war Gabriels Priorität. Er konzentrierte sich langsam auf die Dunkelheit in seinem Inneren und beschwor die Schatten...
Ein dunkles, sich drehendes Loch erschien im Gras unter seinen Füßen.
"Steh auf", befahl er ihr.
Mit einer geballten Faust tauchte ein schreiender schwarzer Schatten aus dem Loch auf, umkreiste ihn und wartete auf seinen Befehl.
"Töte das Biest", sagte er.
Und damit stürzte sich der Schatten auf den Werwolf, sein erbarmungsloser Schrei hallte durch den ganzen Wald.
Gabriel sah ruhig zu, wie der Schatten den Werwolf packte, gerade als er das Mädchen töten wollte. Die Bestie versuchte sich zu befreien, kratzte und riss an dem Schatten.
Aber der Schatten baute sich ständig neu auf, wurde größer, verschlang den Wolf in der Dunkelheit, hielt ihn gefangen.
Der Wolf stieß ein letztes, erschrockenes Heulen aus, als der Schatten ihn verschlang und ins Nichts einbrach und den Wald in Stille zurückließ ... als hätte es nie einen Wolf oder einen Schatten gegeben.
"Guter Junge", sagte Gabriel mit einem Grinsen. Dann schloss er das schwarze Loch.
"Lydia!"
Gabriel runzelte die Stirn, verwirrt. Wessen Stimme konnte das wohl sein? Dann sah er die Katze, die sich zwischen die Arme des Mädchens schmiegte, sie anstupste und sprach.
Eine sprechende Katze?!
Gabriel hatte schon so manchen seltsamen Zauber gesehen, aber noch nie in seinen dreihundertneununddreißig Jahren hatte er so etwas gesehen.
"Bist du okay? Mein Gott, Lydia. Ich hatte solche Angst", schnurrte er.
"Mir geht's gut, Lux. Aber wie...wer...?"
Dann blickte sie auf und sah ihn, und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. "Du..."
"Ich glaube, du meinst 'Eure Majestät'", korrigierte er sie.
Aber das Mädchen weigerte sich immer noch, ihn richtig anzusprechen. Sie stand langsam auf und runzelte die Stirn. "Du hast mich gerettet ... warum?"
"Du hast keine Manieren, oder, Himmelsdrache? Ein einfaches 'Danke' würde genügen."
"Mein Name ist Lydia. Nicht Himmelsdrache."
Sie sagte dies fast zwischen zusammengebissenen Zähnen. Gabriel konnte ihre Dreistigkeit nicht fassen. Besonders nachdem er ihr das Leben gerettet hatte.
"Ich werde noch einmal fragen", sagte sie. "Warum mich retten?"
Gabriel zuckte mit den Schultern. "Ich sehe es als einen Gefallen für Lucius. Über die Jahre hat der Zauberer viel für mich getan. Da du seine Enkelin bist..."
"Sein Lehrling", unterbrach sie. "Wir sind keine Familie. Das hat er klargestellt."
"Nun, dann. Ich nehme an, ich habe meine Zeit vergeudet. Ich hätte dich einfach sterben lassen können."
"Ich habe nicht um deine Hilfe gebeten."
"Aber du hast sie sicher gebraucht, oder? Warum hast du dein Feuer nicht benutzt?"
"Ich habe versucht... Ich..."
Sie blieb stehen. Es war das erste Mal, dass Gabriel das Mädchen, diese Lydia, Verletzlichkeit zeigen sah. Das ließ ihre feurigen Augen noch atemberaubender aussehen.
"Ich bin noch zu schwach", gab sie zu. "Ich weiß nicht, warum. Meine Magie soll die mächtigste sein, aber..."
Es machte klick. Gabriel verstand, was sie brauchte, um die Kunst des Feuers zu meistern. Es war etwas, das nur er ihr geben konnte. Aber er hatte nicht die Absicht, das zu tun.
"Komm, Himmelsdrache", sagte er und nickte. "Ich bringe dich zurück zu Vera, wo du hingehörst."
Er streckte die Hand aus, aber zu seiner Überraschung widersetzte sich Lydia ihm wieder einmal.
"Nein. Ich gehe nicht zurück."
Er konnte seinen Ohren nicht trauen. "Du wagst es, deinem König nicht zu gehorchen?"
Ein dichtes Schweigen herrschte zwischen den beiden, beide weigerten sich, einen Rückzieher zu machen. Gabriel konnte sehen, wie sie sichtlich schluckte, aber sie zitterte nicht. Ihre Augen hielten immer noch die seinen, aber auf ihren olivfarbenen Wangen stieg ein Hauch von Erröten auf.
Für eine Sekunde verlor er den Fokus auf ihre Augen und ließ sich zu ihren geschürzten Lippen treiben, wobei er spürte, wie sich etwas Heißes in seiner Brust bildete, das keine Wut war.
"Du wirst mit mir kommen, ob es dir gefällt oder nicht."
Er wollte sie gerade packen, als sie aus seiner Reichweite rutschte und zurückwich.
"B-bleib weg!", schrie sie mit einem bösartigen Blick.
Ein kleines Feuer brannte zwischen ihren Fingern und kreiste in ihrer Handfläche. Die Flamme war schwach, aber das spielte keine Rolle. Sie bedrohte ihn. Ihren Retter. Ihren "König".
"Was glaubst du, wer du bist?!", brüllte Gabriel. "Ich könnte dich in eine Zelle werfen lassen und – "
Aber er kam nicht dazu, diesen Satz zu beenden, denn einen Sekundenbruchteil später flog ein Feuerball an seinem Gesicht vorbei. Er spürte, wie die Flammen an seiner Wange vorbei peitschten und seine Haut zum Singen brachten.
Er blinzelte ungläubig.
Sie hatte ihn angegriffen.
"Es ... es tut mir leid, du hast mich erschreckt", stotterte sie. "Ich wollte nicht..."
Aber Gabriel war es satt, nett zu sein. Eine Welle der Dunkelheit explodierte aus seiner Brust, umschlang Lydias Hände und Füße und hob sie vom Boden auf.
Sie schwebte in der Luft. Die Hände gefesselt. Hilflos.
Obwohl der König von Wut überwältigt sein sollte, begann ein anderes Gefühl von ihm Besitz zu ergreifen.
Ihre Beine, gespreizt. Ihr Oberteil rutschte runter und legte ihr Dekolleté frei. Ihre Augen, für immer brennend.
Lydia hatte Gabriels Begierde entfacht.
LYDIA
"Was machst du da?!", schrie Lydia. "Lass mich los!"
Aber etwas in Gabriels Augen hatte sich verändert. Wo einst Wut, Ablehnung und Empörung waren, war jetzt ... Lust.
Wieder fühlte Lydia diese fremde Hitze in ihr aufsteigen. Von seiner Schattenmagie gefangen gehalten zu werden, eingefroren zu sein, das war anders als alles, was sie je erlebt hatte.
Sie konnte spüren, wie sich seine Dunkelheit an seinem Fleisch entlang schlängelte. Als ob sie böse Ausdrücke seines inneren Wesens wären.
Sinnliche Vorstellungen begannen ihre Augenlider zu trüben. Sie und der König, körperlich miteinander verschlungen. Reibend und stöhnend aneinander. Ein Wirbel, ein Kampf aus Feuer und Schatten.
Es war das seltsamste Gefühl. Wütend und erregt zugleich zu sein.
"Lass sie gehen!"
Doch dann hörte Lydia eine kleine Stimme, die sie aus ihrer Benommenheit riss. Es war Lux. Er war unter Lydias Füßen, ging auf und ab und versuchte, sie zu erreichen.
"Bitte!", säuselte er verzweifelt.
"Wirst du dich benehmen, Himmelsdrache?", fragte Gabriel mit einem tiefen, drohenden Zittern in der Stimme.
Obwohl ihr Körper durch seine dunkle Magie gefesselt war, hatte sie immer noch die Kontrolle über ihren Mund.
"Du magst der König sein, Gabriel", spuckte sie. "Aber ich bin mein eigener Herr."
"Das werden wir ja sehen."
Dann winkte er mit der Hand und Lydia fiel zu Boden. Die Schatten waren weg. Lux kuschelte sich tröstend an sie.
"Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte", säuselte er.
"Das ist in Ordnung, Lux", sagte sie. "Das ist mein Job. Ich bin diejenige, die versagt hat. Es wird aber nicht wieder passieren. Ich werde stärker werden. Du musst nur abwarten."
"Genug!", forderte der König. "Steht auf. Ihr kommt beide mit mir mit."
"Wohin? Ich sagte doch, ich gehe nicht zurück in meine Stadt."
Als Lydia aufstand, beobachtete sie Gabriel, der sie auf und ab musterte. Seine trüben Augen waren voller seltsamer widersprüchlicher Gefühle.
Emotionen, so gab Lydia zu, fühlte sie selbst.
"Wir gehen nicht in deine Stadt, Himmelsdrache", sagte der König. "Wir gehen in meinen Palast."