Nicole Riddley
MELISSA
Der Himmel erstrahlt in tiefem Blau, weiße Wolken ziehen gemächlich vorüber. Vögel zwitschern fröhlich in den nahen Bäumen. Der See liegt still und glänzend in der warmen Sommersonne. Ein sanfter Wind lässt die Blätter leise rascheln.
Ich blicke hinauf zur mächtigen Trauerweide über mir. Ihre Zweige wiegen sich sanft im Wind, die unteren streifen die Wasseroberfläche.
Plötzlich bemerke ich eine Bewegung im Wasser. Neugierig knie ich mich ans Ufer und schaue hinein.
Dort, unter der Weide am See, sehe ich sie - ein 8-jähriges Mädchen mit hellblondem Haar und einen 10-jährigen Jungen mit pechschwarzem Haar. Sie sind ganz in ihre eigene Welt versunken.
Der Himmel leuchtet blau, das Gras wogt im Wind, Vögel singen ihre Melodien, der See glitzert in der Sonne...
„Mit diesem Band will ich uns verbinden. Unsere Liebe werde ich für immer in meinem Herzen tragen, unsere Leben sind von nun an bis in alle Ewigkeit vereint“, sagt das kleine Mädchen feierlich. Behutsam wickelt sie ein zartrosa Band um ihre Hände.
Sie zieht das Ende durch die Schlaufe und zieht es fest. „Dieses Versprechen ist gegeben und soll niemals gebrochen werden. Es ist mein innigster Wunsch, und so sei es.“ Sie blickt den Jungen mit ihren leuchtend grünen Augen erwartungsvoll an.
Er hebt seine freie Hand, die Handfläche nach oben. Gebannt beobachten beide, wie seine Fingerspitzen rot zu glühen beginnen. Dann erscheint ein helles weißes Licht, bevor plötzlich eine kleine Flamme aufflackert und seine ganze Hand umhüllt.
Der Junge sieht das Mädchen ernst an und sagt: „Ich gehöre dir bis ans Ende aller Zeiten, Fayre. Bis in alle Ewigkeit. Das ist mein Versprechen an dich.“
Das Mädchen staunt über das Feuer. Nach einigen Augenblicken runzelt der Junge die Stirn. „Jetzt bist du an der Reihe, Fayre. Sprich die Worte.“
Sie blickt ihm wieder ins Gesicht und schenkt ihm ein verspieltes, liebevolles Lächeln. „Und ich gehöre dir bis ans Ende aller Zeiten, Ciarán. Für immer und ewig und darüber hinaus.“
„Versprichst du es?“
„Ich verspreche es“, sagt sie aufrichtig und nickt bekräftigend.
Er schließt seine Hand und löscht das Feuer. Seine dunklen Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Egal was passiert, wir bleiben zusammen, Fayre. Du und ich. Ganz gleich wohin du gehst, ich werde dich immer finden.“
Er nimmt die Kette von seinem Hals und legt sie ihr behutsam um, dann streicht er ihr sanft das Haar zurecht. Ein glänzender, sternförmiger Kupferanhänger baumelt an einer schwarzen Lederschnur.
Auf der einen Seite ist eine Sonne abgebildet, auf der anderen eine Mondsichel.
Das Mädchen streicht zärtlich mit der Hand darüber. „Er ist wunderschön, Ciarán. Ich habe ihn schon immer gemocht.“
„Ich weiß“, sagt er mit einem leichten Lächeln.
Sie zieht etwas aus der Tasche ihres lila Kleides. Ein Armband aus glänzenden schwarzen Perlen. Vorsichtig bindet sie die Schnur um sein Handgelenk. „Ich habe es selbst gemacht. Gefällt es dir, Ciarán?“
„Ich liebe es“, sagt er aufrichtig.
Ein starker Windstoß fegt über den See und sie keucht überrascht auf. Ihr langes, goldenes Haar weht ihr ins Gesicht.
Sie streicht es beiseite und blickt zu ihm auf. Ihre strahlend grünen Augen sind voller Hoffnung. „Kommst du morgen wieder zum Spielen, Ciarán?“
„Nicht morgen. Schlimme Dinge stehen bevor...“
Dunkle Wolken ziehen plötzlich auf. Der Himmel verdüstert sich und er blickt besorgt nach oben. Der Wind wird stärker. Das rosa Band flattert wild im Wind.
Auf einmal steht der Junge allein da.
„Fayre?“, ruft er beunruhigt und sieht sich suchend um. „Fayre!“, schreit er. „Fayre! Komm zurück, Fayre!“ Er klingt verzweifelt. „Fayre!“
Plötzlich sieht er mich an und ich keuche erschrocken auf. Blau. Seine Augen sind blauer als der Himmel. Sie blicken direkt in meine. „Fayre, komm zu mir zurück!“
Er streckt seine Hand nach mir aus und ich greife danach. Ich strecke mich immer weiter, bis ich am Rand des grasigen Seeufers knie. Näher. Näher. Unsere Finger sind nur noch Millimeter voneinander entfernt.
Meine Fingerspitze berührt die glatte, glänzende Oberfläche des Sees und sie kräuselt sich, verzerrt sein wunderschönes Spiegelbild. Das Wasser wird trüb und er entfernt sich. Nein, nein, nein!
Ein feiner Nebel zieht auf und bedeckt das Wasser, schwebt darüber. Der Nebel wird dichter, bis er nur noch eine verschwommene Gestalt ist. Nein!
„Fayre?“, sagt er.
„Komm zurück!“, rufe ich verzweifelt. „Bitte, komm zurück!“ Sein Name liegt mir auf der Zunge. „Bitte...?“
„Fayre!“ Seine Stimme ist jetzt nur noch ein leises, fernes Flüstern im Nebel. „Vergiss mich nicht.“
Ich starre auf das dunkle Wasser des Sees. Warte. Warte darauf, dass er zurückkommt. Wenn ich mich nur an seinen Namen erinnern könnte. Eine unendliche Traurigkeit erfüllt mich. „Komm zurück!“, rufe ich ein letztes Mal.
Ich sitze noch eine Weile regungslos da, bis ich schließlich aufstehe. Es ist jetzt dunkel. Ich stehe einsam am Seeufer. Das Mondlicht spiegelt sich blass auf der ruhigen Wasseroberfläche durch den dünnen Nebel.
Ich trage nur mein dünnes weißes Nachthemd. Das Gras ist feucht unter meinen nackten Füßen. Feiner Nebel wabert um mich herum.
Irgendwo erklingt ein Lied. Flöte, Harfe, Geige und Trommeln spielen zu süßen Stimmen. Die Melodie hallt über Felder und Wälder und über den See. Ich versuche, nicht hinzuhören, aber sie wird lauter, ruft nach mir.
Das Lied ist wunderschön und seltsam vertraut. Es ist so lieblich, dass ich vergesse, wonach ich gesucht habe, und ich drehe mich um. Die Nachtluft scheint erfüllt von Magie.
Komm, o süßes Kind
Komm, kleine Braut
Mondscheinvergnügen ruft nach dir
Wir tanzen bis zum Morgentau
Wir essen bis der Hahn kräht
Singen fröhliche Lieder, sind glücklich
Spielen wild und frei
Erheitern dein einsames Herz
Komm, süßes Kind
Komm, kleine Braut
Tritt in unseren Feenkreis
Schließ dich dem magischen Sidhé-Kreis an
Wir schreiten und bewegen uns anmutig
Auf weichem Gras sind wir glücklich
Komm, süßes Kind
Komm, kleine Braut
Ins magische Tir na nÓg
Über den See und unterm Mondlicht
Wir geben dir Milch, Honig und Wein
Süße Kuchen und saftige Beeren
Voller Magie und Freude, süße Fee
Für immer, für immer, für immer
Komm, süßes Kind
Komm, kleine Braut
Tritt in unseren Feenkreis
Schließ dich dem magischen Sidhé-Kreis an
Wir schreiten und bewegen uns anmutig
Auf weichem Gras sind wir glücklich
Komm, süßes Kind
Komm, kleine Braut
Singen fröhliche Lieder, sind glücklich
Singen fröhliche Lieder, sind glücklich
Das Lied ist süß und mein Herz schmerzt. Es fühlt sich so schwer an. Ich spüre, dass ich irgendwo sein sollte, aber ich weiß nicht wo. Ich fühle, dass ich etwas tun sollte, aber ich weiß nicht was.
Ich sehne mich nach jemandem, aber ich weiß nicht nach wem. In meinem Herzen klafft eine tiefe, schmerzende Wunde, aber ich weiß nicht warum.
Ich wache auf und winde mich vor Schmerz. Atme schwer. Voller Sehnsucht. Eine Sehnsucht so stark, dass es wehtut. Mein Herz schmerzt davon und es durchdringt mich wie Gift.
Es durchströmt meinen ganzen Körper. Alles tut furchtbar weh und macht mich schwach.
Ich setze mich in meinem Bett auf und ringe nach Luft. Ohne auf die Uhr zu schauen, weiß ich, dass es kurz nach Mitternacht ist.
Seit einigen Monaten habe ich immer denselben Traum, höre dasselbe seltsame Lied und sehe denselben wunderschönen Jungen, und es passiert immer zur gleichen Zeit: um Mitternacht.
Ich steige aus dem Bett, gehe zum Fenster und öffne die Vorhänge. Das Mondlicht strömt herein und taucht alles in silbriges Licht. Mein Zimmer blickt auf den See hinter unserem Haus, denselben See aus meinem Traum.
Er glitzert im Mondlicht. Ich kann ihn von hier aus sehen. Einige Eichen in unserem Garten versperren mir fast die Hälfte der Sicht auf den ganzen See.
Aber ich kann die große Trauerweide am Ufer deutlich erkennen.
Mein Herz schmerzt noch immer vor tiefer, starker Sehnsucht, während ich auf den glitzernden See blicke. Ich glaube, die Musik noch immer direkt vor meinem Fenster zu hören. Die Luft fühlt sich noch immer magisch an.
Eine plötzliche Bewegung in den Schatten der Bäume lässt mich zurückweichen und die Vorhänge schließen.
Da ist nichts. Da ist nichts. Da ist nichts. Ich habe eine blühende Fantasie. Wirklich. Meine Mutter sagt das auch. Ich setze mich wieder aufs Bett, umarme mich selbst und wiege mich hin und her.
Als der Schmerz und die Schwäche überhand nehmen, lege ich mich hin. Die Sehnsucht will nicht nachlassen.
Der Traum und die Sehnsucht begannen direkt nach meinem sechzehnten Geburtstag vor zwei Monaten. Anfangs geschah es nur ein- oder zweimal pro Woche.
Mit der Zeit wurde es häufiger, so oft, dass es jetzt fast jede Nacht passiert. Jede Nacht hinterlässt es mich erschöpfter als die Nacht zuvor.
Jetzt keuche ich vor Schmerz. Tief in mir weiß ich, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Nicht mehr lange.
Der Junge in meinen Träumen... Ich runzle die Stirn, als ich versuche, mich an seinen Namen zu erinnern. Ich erinnere mich an sein Gesicht, seine Stimme, aber ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern. Jedes Mal wenn ich aufwache, vergesse ich seinen Namen.
„Fayre“, hat er mich genannt. Aber mein Name ist nicht Fayre.