Evelyn Miller
SAVANNAH
Ich wache auf, als die Sonne durch meine offenen Vorhänge scheint. Es ist stickig und riecht muffig im Zimmer.
Stöhnend drehe ich mich um und berühre jemanden. Kurz erschrecke ich, bis mir die letzte Nacht wieder einfällt.
Nach unserer Heimkehr habe ich viel geweint und Erin ist zu mir ins Bett gekrochen.
„Erin“, krächze ich mit trockener Kehle. „War das nur ein böser Traum?“, frage ich hoffnungsvoll.
„Tut mir leid“, flüstert sie.
Mein Herz wird schwer.
Mist. Verdammter Mist.
Warum musste er ausgerechnet jetzt wieder auftauchen?
„Du hast tatsächlich mit Mickey Clark geschlafen“, sage ich und muss lachen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass die beiden miteinander ins Bett gehen würden.
„Ugh, erinner mich bloß nicht daran. Ich brauch dringend eine Dusche“, stöhnt Erin und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
„Was hast du jetzt vor?“, fragt sie und schmiegt sich eng an mich.
„Ihm aus dem Weg gehen. Seine Chance hatte er vor vier Jahren“, antworte ich. „Das dürfte nicht schwer sein, wir verkehren ja in ganz anderen Kreisen“, füge ich hinzu und muss lachen, als ich an Tanner und seine Freunde in der Bibliothek denke.
„Kannst du dir die in der Bücherei vorstellen?“, kichert Erin und ihr Körper bebt leicht.
„Du sprichst mir aus der Seele“, lache ich.
„Wirst du es Pete erzählen?“, fragt sie und ich verstumme.
„Er weiß nichts davon“, sage ich leise. Erin setzt sich auf und sieht mich an.
„Er hat einmal nachgefragt und ich meinte nur, ihr Vater sei nicht da gewesen und wir reden nicht darüber“, erkläre ich und richte mich etwas auf. „Meinst du, ich sollte es ihm sagen?“, frage ich unsicher und kaue auf meiner Lippe.
Wir sind jetzt seit zwei Jahren zusammen, vielleicht sollte er die Wahrheit kennen. Andererseits hat er auch nie wieder nachgehakt.
„Tu, was du für dich und Rosie am besten hältst“, meint Erin und kuschelt sich wieder an mich.
„Ich weiß nicht“, seufze ich. „Hast du Rosie erzählt, dass ihr Vater gewalttätig war?“, frage ich plötzlich und erinnere mich an ihre Worte in der Bibliothek gestern.
„Was? Nein! Sie spricht nie über ihren Vater.“
„Dieser Jax-Junge hat sich den Arm gebrochen und sie hat gefragt, ob er jemanden geschlagen hat, weil ihr Daddy das getan hat“, erkläre ich.
„Was zum Teufel?“, ruft Erin wütend und setzt sich kerzengerade auf. „Woher weiß sie das?“
„Keine Ahnung“, ich schüttle ratlos den Kopf und setze mich ebenfalls auf. „Vielleicht hat sie es im Fernsehen aufgeschnappt“, zucke ich mit den Schultern und überlege, wer ihr sonst davon erzählt haben könnte.
Nur Erin und ich wissen, wer er ist. Nicht einmal Harry und Mallory sind eingeweiht.
„Soll ich mit ihr reden?“, bietet Erin an, während ich anfange, Kleidung herauszusuchen.
„Ich glaube, das mache ich besser selbst“, seufze ich widerwillig. Normalerweise übernimmt Erin in unserer Freundschaft die schwierigen und unangenehmen Gespräche.
Sie hat sogar meinen Eltern von meiner Schwangerschaft erzählt.
Eine Stunde später sind wir frisch geduscht und angezogen und betreten das Haus der Edwards. Ich höre Rosie kreischen und lachen.
Sofort muss ich lächeln, als ich ihr Lachen höre. Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe Harry, der sie kopfüber an den Knöcheln festhält.
„Willst du das nochmal machen, Frechdachs?“, lacht Harry und schwingt sie sanft hin und her.
„Ja!“, ruft Rosie fröhlich.
„Oh je, was hast du angestellt?“, scherze ich.
„Deine Tochter hat mich angepupst!“, ruft Harry, bevor er Rosie wieder richtig herum dreht und vorsichtig auf die Füße stellt.
„Und ich mach's wieder!“, sagt sie und rennt in meine Arme.
„Hallo Mama“, lächelt sie.
„Hallo Schatz“, lächle ich zurück und drücke ihren kleinen Körper fest an mich. „Ich hab dich vermisst“, sage ich und übersäe ihr Gesicht mit Küssen.
„Nein! Aufhören!“, kichert sie und windet sich, um mir zu entkommen.
„Ich hab dich auch vermisst, Buttercup“, sagt Erin und küsst die andere Seite ihres Gesichts.
„Keine Küsse mehr!“, lacht Rosie.
Ich gebe ihr noch einen letzten feuchten Schmatzer auf die Wange, bevor ich sie wieder auf die Füße stelle. Sofort flitzt sie davon.
„Gute Nacht gehabt?“, fragt Harry und lässt sich in seinen Sessel fallen.
„Ereignisreich“, antworte ich und sinke aufs Sofa.
„Soll das was Bestimmtes heißen?“, fragt Harry und zieht die Augenbrauen hoch.
„So in der Art“, antwortet Erin für mich. „Wo ist Mom? Ich hab Kohldampf“, jammert sie.
„Als wärst du nie weg gewesen“, brummt Harry, bevor er zur Küche deutet.
„Mom! Ich hab Hunger!“, ruft Erin.
„Dann mach dir selbst was!“, schallt es aus der Küche zurück, bevor Mallory in der Tür erscheint und sich die Hände an einem Handtuch abtrocknet.
„Wir haben schon gegessen.“
„Ugh“, stöhnt Erin und verzieht das Gesicht.
„Du kannst mit zum Brunch kommen?“, schlage ich vor und versuche, mir ein Grinsen zu verkneifen. Rosie und ich treffen uns wie jeden Samstag mit Pete zum Brunch, aber Erin lehnt immer ab, weil sie Pete nicht ausstehen kann.
„Na gut. Aber ich werde nicht nett zu ihm sein.“
Ich klappe den Mund auf. Damit hätte ich nie gerechnet.
„Rosie Posie! Zieh deine Schuhe an!“, ruft Erin, während sie aufsteht.
„Kommst du mit mir und Mama mit?“, fragt Rosie und rennt mit ihren Schuhen in der Hand zurück ins Zimmer.
„Jap.“
„Juhu!“
***
„Hey Schatz“, begrüßt mich Pete mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, nachdem er eine Viertelstunde zu spät gekommen ist. „Hi Rosie. Erin“, nickt er.
„Hi Pete!“, sagt Rosie fröhlich, ohne von ihrer Zeichnung auf dem Kindermenu aufzublicken.
„Ich esse heute Pfannkuchen!“, verkündet sie, als Pete sich auf den freien Platz neben Erin quetscht, was ihr gar nicht schmeckt.
„Wie war gestern Abend?“, fragt Pete und öffnet die Speisekarte.
Ich weiß nicht, warum er überhaupt reinschaut. Er bestellt immer dasselbe.
Speck und pochierte Eier. Schwarzer Kaffee.
„Es war ganz nett“, flunkere ich ein bisschen. Der Großteil des Abends war gut, nur das Ende nicht. Erin sieht mich fragend an, aber ich schüttle nur den Kopf und schaue zu Rosie hinunter.
„Ich glaube, ich nehme Speck und Eier.“
„Neiiin! Du solltest Pfannkuchen essen wie ich und Mama und Tante Erin“, schüttelt Rosie den Kopf und blickt zum ersten Mal von ihrer Zeichnung auf.
„Ich mag keinen Zucker“, erwidert er in einem nicht sehr freundlichen Ton.
„Also ich liebe ihn“, entgegnet Rosie und wendet sich wieder ihrer Zeichnung zu.
„Wir müssen wirklich an ihren Manieren arbeiten“, sagt Pete und sieht mich direkt an.
Wir haben diesen Streit schon oft gehabt.
Er meint, sie braucht bessere Manieren; ich sage, sie ist ein Kind und macht es gut für ihr Alter. Aber irgendwie endet es immer damit, dass ich zustimme, ihr mehr Manieren beizubringen.
„Darüber rede ich jetzt nicht“, sage ich genervt. Ich habe keine Lust auf diese Diskussion.
„Nur weil du einen Kater hast, musst du nicht pampig werden“, sagt er leise, gerade als die Kellnerin kommt, um unsere Bestellung aufzunehmen.
Nur um Pete zu ärgern, bestelle ich extra Sirup für Rosie und mich. Ja, sie wird vom Zucker durch die Decke gehen, aber sie bekommt nicht oft Süßes und einmal wird schon nicht schaden.
Wir schweigen, während wir auf unser Essen warten. Ich will Pete gerade fragen, was er gestern Abend gemacht hat, als Rosie einen aufgeregten Laut von sich gibt.
„Mama, da ist Jax!“, ruft sie, zeigt auf die andere Seite des Raums und beginnt, über mich zu klettern. Ich versuche sie festzuhalten, aber sie ist zu flink.
Ich springe auf und renne ihr hinterher. Ich erwische ihren Arm gerade, als sie stehen bleibt.
„Hast du es an deinen Kühlschrank gehängt?“, fragt sie und hüpft auf und ab.
„Natürlich!“, antwortet Jax fröhlich. Ich sehe zu ihm auf und schenke ihm ein entschuldigendes Lächeln.
„Komm Schatz, lass Jax in Ruhe essen“, sage ich und blicke zu dem älteren Paar, bei dem er sitzt und das ich für seine Eltern halte.
„Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben noch nicht einmal bestellt. Du musst die kleine Rosie sein, von der Jax uns so viel erzählt hat.“ Die Dame lächelt liebevoll und sieht sie mit zärtlichen Augen an.
„Jap. Ich bin drei“, lächelt sie und hält drei Finger hoch.
„Es tut mir so leid, sie hat Jax sehr ins Herz geschlossen, wie Sie sehen können“, lache ich verlegen und beiße mir auf die Lippe, während ich mich frage, was Jax ihnen erzählt hat.
„Ach, machen Sie sich keine Gedanken, Liebes“, winkt Jax' Mutter ab. „Ich bin Ann und das ist mein Mann Ian“, stellt sie sich freundlich vor.
„Ich bin Sav-“
„Savannah?“ Ich werde von derselben männlichen Stimme wie gestern Abend unterbrochen. Sofort wird mein Hals ganz trocken. Ich versuche zu schlucken, aber es hilft überhaupt nicht.
„Ja“, nicke ich und drehe mich etwas, um Tanner zu sehen und gleichzeitig Rosies Körper mit meinem zu verdecken.
„Warum redest du mit meinen Eltern?“, fragt er. Er klingt oder sieht nicht wütend aus. Er wirkt verwirrt.
„Oh, ich habe nur Jax begrüßt“, antworte ich und nicke in Richtung Jax, der Grimassen für Rosie schneidet.
Moment, hat er gerade seine Eltern gesagt?!
Das bedeutet, sie haben gerade zum ersten Mal ihre Enkelin getroffen und wissen es nicht einmal.
Und Jax.
Jax ist Rosies Onkel.
„Wer ist das?“, fragt Tanner und blickt auf meine Tochter hinunter, die hinter meinen Beinen hervorlugt, um zu ihm aufzusehen.
„Ich bin Rosie. Ich bin drei“, erklärt sie Tanner stolz und hält wieder ihre Finger hoch.
Tanner schweigt für eine gefühlte Ewigkeit und starrt Rosie an.
Seine grünen Augen werden groß, während er das kleine Mädchen anstarrt.
Er weiß es.
„Meine Mama sagt, es ist unhöflich, sich nicht vorzu- vorzu-. Mama, wie heißt das Wort nochmal?“, sagt Rosie in frechem Ton und sieht zu mir hoch.
„Vorzustellen“, sage ich leise und spüre, wie mein Gesicht rot wird.
„Mama, es ist unhöflich, leise zu sprechen“, weist sie mich zurecht, bevor sie sich wieder Tanner zuwendet, dessen Augen sich immer noch nicht von Rosie gelöst haben.
„Ich bin Tanner. Ich bin zweiundzwanzig“, antwortet er, nachdem Jax laut gehustet hat.
„Meine Mama ist auch zweiundzwanzig!“, ruft sie fröhlich, bevor sie den Kopf schief legt, sodass ihre lockigen Haare hüpfen, während sie ihn von oben bis unten mustert.
„Ist er dein kleiner Bruder?“, fragt sie und dreht sich zu Jax, während sie versucht, auf seinen Schoß zu klettern.
„Komm Rosie, wir gehen besser zurück an unseren Tisch. Tante Erin und Pete essen vielleicht schon deine Pfannkuchen“, sage ich und greife nach ihrem Handgelenk. „Und Jax möchte in Ruhe essen“, füge ich hinzu, als sie sich an Jax' gesunden Arm klammert.
„Aber Mama“, quengelt sie und schiebt ihre Unterlippe vor.
„Keine Widerrede. Ab an den Tisch mit dir“, sage ich, was ihre Unterlippe noch weiter hervortreten lässt, aber sie gehorcht mit einem traurigen „Ja, Mama“.
„Nochmals Entschuldigung“, sage ich schnell, bevor ich fast zurück an unseren Tisch renne, wo eine wütende Erin sitzt, die von Pete blockiert wird.
„Was war das denn?“, fragt Pete, sobald ich mich setze.
„Rosie hat gerade Jax' Familie kennengelernt“, sage ich leise und hoffe, dass Erin versteht.
„Warum wollte Erin dann hinrennen, als der andere Typ auftauchte?“, fragt er und sein Hals beginnt sich rot zu färben.
„Das ist Jax' kleiner Bruder“, antwortet Rosie, immer noch schmollend. „Er heißt Tanner und ist zweiundzwanzig“, erzählt sie uns, was sie gerade erfahren hat.
„Wir waren zusammen auf der Highschool und er war ein A-r-s-c-h-l-o-c-h zu uns“, antwortet Erin schnell und buchstabiert Arschloch.
„Und du lässt Rosie mit seinem Bruder befreundet sein?“, sagt Pete in wütendem Ton.
„Es ist ja nicht so, als hätte sie das gewusst“, erwidert Erin verärgert, als dieselbe Kellnerin, die unsere Bestellung aufgenommen hat, unser Essen bringt.
„Und Jax ist nett zu ihr“, füge ich hinzu, nehme Messer und Gabel und beginne, Rosies Pfannkuchen in Stücke zu schneiden.
„Ich mache das“, sagt Rosie, als ich den Sirup für sie drüber gießen will.
Ich gebe ihr das kleine weiße Schälchen und sie gießt alles über die geschnittenen Stücke.
„Vergiss nicht, es von deinen Fingern zu lecken“, zwinkere ich ihr zu. Sie schenkt mir ihr breites Lächeln, bevor sie anfängt, ihre klebrigen Finger abzulecken.
„Ernsthaft, hat niemand an diesem Tisch Manieren?“, sagt Pete in gereiztem Ton.
„Leck mich“, erwidert Erin wütend, und Rosies Ohren spitzen sich, was mich innerlich aufstöhnen lässt. In letzter Zeit schnappt sie gerne neue Ausdrücke auf und wiederholt sie dann.
Wir vier essen schweigend. Ich bekomme kaum einen Bissen runter. Ich bin mir nicht sicher, ob es am Kater liegt oder weil Tanner direkt auf der anderen Seite des Raumes sitzt.
„Ich gehe auf die Toilette“, sagt Pete, als er mit seinem Essen fertig ist.
„Jetzt wo der Miesepeter weg ist, erzähl mir, was passiert ist“, sagt Erin und rutscht auf der Bank, sodass sie mir gegenüber sitzt.
„Ich bin mir sicher, er hat es kapiert“, seufze ich und werfe meine Gabel auf den Teller. „Was soll ich bloß tun?“, jammere ich und blicke zu den Taylors hinüber.