Die Ruhe im Sturm - Buchumschlag

Die Ruhe im Sturm

Rose Jessie James

Der Lykaner

Lilac

Lilac rannte, bis ihre Beine sie im Stich ließen und ihre Füße völlig taub waren.

Sie stützte sich mit der Hand an der Wand eines verfallenen Walls am Rande des Grundstücks ab, um Luft zu holen.

Sie schaute nach links und rechts, kurzzeitig aus ihrer Benommenheit geschüttelt. Was tat sie da? Wo war sie?

Ihr Verstand war so sehr von der Trance des Duftes überwältigt, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, welchen Weg sie genommen hatte, um hierher zu gelangen.

Sie drehte sich um und schaute hinter sich, sah einen Ausgang zum massiven Heckenlabyrinth. Und weit in der Ferne den warmen, von Kerzen beleuchteten Eingang zum Festsaal.

Sie hatte sich weit von der Lykanthropen-Versammlung entfernt. Und wofür?

Es war, als hätte ihr Gehirn sie kurzzeitig im Stich gelassen. Das muss nur ein Nebeneffekt davon gewesen sein, dass sie Eli Damons Herz gebrochen hatte, dachte sie.

Sie wollte sich gerade umdrehen, um ihre Familie zu finden, um in die Sicherheit ihrer Bücher und ihres Schlafzimmers zurückzukehren, als sie es hörte.

Ein unmenschliches Heulen.

Und in dem Heulen ... eine Stimme, die sie zu rufen schien. Wortlos. Über irgendeine psychische Verbindung. Lilac konnte die Worte fast verstehen.

.....komm zu mir...
Lilac...wer bist du?
Lilac...was ist los?!
.....du hast meinen Duft gerochen...
.....komm zu mir...

Lilacs Augen weiteten sich, als sie sich hektisch nach der Quelle der Stimme umsah. Sie klang so nah, als wäre sie praktisch neben ihr und flüsterte ihr ins Ohr.

Und das Heulen. Es gehörte nicht zu einem gewöhnlichen Werwolf.

Das Geräusch war tief und rau und voller Schmerz.

Jetzt konnte sie ihn wieder riechen. Ihn.

Der Duft von Zitrusfrüchten und Moschus überflutete erneut ihre Nase. Und es kam alles wieder zurück.

Lilac schloss die Augen und erlaubte dem Duft, sie zu überwältigen, sie zu führen, ihre Füße zur Quelle zu bringen.

Sie konnte spüren, wie sich ihre Umgebung um sie herum veränderte. Sie war nicht mehr draußen. Sie war durch eine Türöffnung in einen kühlen, feuchten Raum getreten.

Selbst mit geschlossenen Augen konnte sie spüren, dass er alt und voller schmerzhafter Erinnerungen war. Es fühlte sich fast wie ein Gefängnis an.

Als sie schließlich die Augen öffnete, stand sie vor einem Tor. Dahinter war eine Treppe.

Was auch immer die Quelle war, Lilac wusste instinktiv, dass sie dort unten lag.

Sie versuchte, das Tor zu öffnen. Aber es war verschlossen.

"Nein, nein, nein!", schrie sie und hämmerte gegen den Riegel.

Sie wusste nicht, warum sie so verzweifelt versuchte, da runter zu kommen.

Wenn sie nur etwas Langes und Scharfes hätte, das sie durch das Schlüsselloch stecken könnte und...

Lilac wusste, was sie zu tun hatte.

Sie musste umschalten.

Lilac hielt ihre Hand an das Schloss und begann, ihren Körper zu verändern.

Ihre Finger zitterten, die Nagelhaut blutete, während borstige Haare entlang ihrer Fingerknöchel sprossen. Es tat immer höllisch weh, aber nichts konnte sie aufhalten.

Sie hielt mitten in der Bewegung an, gerade als sich ihr Nagel in die Klaue eines Wolfes verwandelte.

Als sie ihre Krallen nutzte, hörte sie das erhoffte Klicken.

Damit zog Lilac ihre Krallen zurück und nahm wieder die menschliche Form an.

Das Tor war schwer, und sie musste es mit ihrem ganzen Gewicht aufschieben.

Sie starrte in die Dunkelheit und stützte sich mit der Hand an der Wand ab, um sich beim Hinabsteigen der Treppe zu orientieren.

Sie bewegte sich jetzt langsamer, vorsichtiger. Sie konnte spüren, dass da unten etwas bei ihr war, das in den Schatten lauerte und nach ihr rief.

Der Duft rief sie nach vorne und überwältigte jede Angst, die Lilac fühlte.

Als sie das untere Ende der Treppe erreichte, flackerte über ihr ein schwaches Licht auf.

Zu ihrem Entsetzen starrte Lilac einen Gang mit alten, vergessenen Gefängniszellen hinunter. Dieser Ort war einmal ein Gefängnis gewesen.

Ein tiefes Knurren ertönte aus einer der Zellen. Lilac fühlte, wie sich etwas in ihrem Inneren regte.

Ihre Wangen röteten sich. Sie war schockiert und peinlich berührt von der Reaktion ihres Körpers.

Auf das Knurren folgte ein klägliches Wimmern. Lilac verspürte den Drang zu rennen, aber sie beruhigte sich und näherte sich vorsichtig der Zelle, aus der die Geräusche kamen.

Das war, als sie ihn sah.

Ein in Ketten gefesselter Lykaner.

Lykaner waren wie Werwölfe, aber stärker. Einige Lykaner, so hieß es, könnten sogar Unsterblichkeit erlangen, wenn sie ihren Partner fanden und markierten.

Lilac hatte noch nie einen Lykaner wie diesen gesehen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, als sie ihn betrachtete.

Er stand auf seinen Hinterbeinen, überragte sie mit breiten Schultern und scharfen, langen Eckzähnen, die aus seinem Zahnfleisch ragten. Er war die furchterregendste Kreatur, die sie je gesehen hatte.

Um seinen Körper waren Dutzende von Metallketten geschlungen, die mit der Wand verschraubt waren.

Der Lykaner kläffte, als wäre er ein Welpe, und starrte sie ungläubig an.

Er war der Duft, erkannte Lilac.

Er versuchte, sich auf sie zuzubewegen, aber die Fesseln ließen ihn nicht.

Der Anblick brachte sie um. Sie wusste nicht, warum, aber sie fühlte für diese Monstrosität.

So etwas hatte sie noch nie gefühlt.

Für niemanden.

"Was haben sie mit dir gemacht?", flüsterte Lilac.

Sie sah sich in der Zelle um und entdeckte einen Schlüsselbund, der an der Wand hing.

Hastig griff sie danach und schloss die Zelle auf.

War es gefährlich? War es dumm? Lilac war es egal.

Sie musste ihn befreien. Um ihm nahe zu sein. Um ihn kennenzulernen.

Lilac stürzte zu dem Lykaner und warf sich an seine Brust, als ob sie ihn schon ihr ganzes Leben lang kennen würde. Die Ketten, die ihn fesselten, schmerzten auf ihrer zarten Haut, aber sie wagte nicht loszulassen.

Sie konnte spüren, wie seine massiven Lungen hüpften und sein Herz heftig wie eine Trommel schlug.

Lilac nahm seinen Geruch auf. Er fühlte sich tröstlich an, wie ein Zuhause.

Der Lykaner wimmerte leise bei Lilacs Berührung.

Er zog sie dicht an sich heran und schmiegte sein Gesicht in ihren Nacken, seine Brust brummte, während er mit seinem Schwanz gegen die Ketten hin und her wedelte.

Lilac konnte sich nicht erklären, was genau passiert war.

Aber sie wusste, dass es sich richtig anfühlte.

Als sie in die Augen des Lycaners sah, erhitzten sich ihre Wangen. Sein Blick war intensiv und wissend.

Er rieb seine Wange an ihrer und leckte ihr dann liebevoll über die Nasenspitze. Lilac kicherte leise. Sie hob eine Hand zu seiner Schnauze und streichelte sie sanft.

Sie spürte sie. Die Funken, von denen ihre Mutter ihr immer erzählt hatte. Die Funken, die sie immer vermieden hatte.

Aber das konnte doch nicht sein...

Oder doch?

Sie schüttelte den Gedanken ab und versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging.

"Warum bist du in Ketten?", fragte Lilac. "Wer hat dir das angetan? Bitte, kannst du dich zurückverwandeln und es mir sagen?"

Der Lykaner schüttelte den Kopf. Nein.

Lilac war verwirrt. Warum wollte er nicht in seine menschliche Form zurückkehren? Wovor hatte er Angst?

Sie warf ihm einen flehenden Blick zu und klimperte mit ihren langen Wimpern.

Er knurrte, zitterte und wollte sich nicht bewegen. Aber warum?

"Bitte", bettelte sie wieder.

Schließlich sah er ihr in die Augen und nickte zustimmend.

Sein Körper begann zu zittern...

Das Skelettgerüst knackte und die Knochen verrenkten sich unter seinem Fell, ordneten sich in quälender Langsamkeit neu, während sein menschlicher Körper begann, Form anzunehmen.

Neugierig schaute Lilac zu ihm auf.

Der Mann unter dem Wolf sah erwachsen aus. Sein langes braunes Haar war wild und ungekämmt, passend zu seinem struppigen Bart. Seine gebräunte Brust war mit Narben übersät.

Nichts an ihm war traditionell gut aussehend.

Aber für Lilac war er makellos.

In dem Moment, als er seine menschlichen Augen öffnete, fühlte sich Lilac aufgeregt, plötzlich eingeschüchtert, ohne zu wissen, warum.

"Wie ist dein Name?", fragte er mit tiefer, rauer Stimme.

"Lilac".

"Lilac. Was für ein schöner Name."

Der Klang ihres Namens auf seinen Lippen ließ sie erröten. Es war zu viel.

"Und was ist deiner?", fragte sie.

"Ich bin Alpha Kyril Vasilio."

Derselbe Schauer, der ihr früher in dieser Nacht über den Rücken gelaufen war, schoss wieder durch sie hindurch.

Lilac hatte eine Vision in ihrem Kopf, wie er aussehen würde. Sie hatte sich einen gewaltigen Berg von einem Wolf vorgestellt, furchterregend und abscheulich. Nicht diese gequälte Gestalt, die vor ihr stand.

Sie wollte wissen, warum er im Kerker eingesperrt war. Wer hatte ihm das angetan?

"Kyril", sagte sie und bekam eine Gänsehaut, "warum bist du in diesen Ketten?"

Kyril seufzte. Er schien zu befürchten, dass seine Antwort sie verscheuchen würde.

"Bitte", flehte Lilac und warf ihm noch einmal einen hoffentlich unschuldigen Blick zu.

Kyril war ihrem Blick nicht gewachsen.

"Stunden vor Beginn der Veranstaltung begann mein Wolf unruhig zu werden. Er rührte sich in meinem Hinterkopf und versuchte, sich seinen Weg nach draußen zu krallen. Das letzte Jahr war ich kurz davor, wild zu werden."

Die Gerüchte sind also wahr, dachte sie.

"Die Wahrheit ist", fuhr er fort, "ich habe den königlichen Wachen befohlen, mich hier unten anzuketten. Ich wollte nicht die Kontrolle verlieren und andere verletzen. Seit Jahren muss ich mich so zurückhalten. Es ist das, was getan werden muss, bis ich eine andere Lösung finden kann."

Seit Jahren? Wie alt war er wirklich?

Er schien Lilacs Gedanken zu lesen, denn ein schiefes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

"Ja, Lilac", sagte er, "ich bin zweiunddreißig Jahre alt. Zu alt, um so lange allein zu sein. Wie sehr mein Herz und meine Seele und mein Körper geschmerzt haben..."

Lilac fröstelte, als sie merkte, wie kalt es in der tristen Zelle war. Ihr Unbehagen spürend, nahm Kyril ihre Hand.

"Komm, lass uns zum Reden woanders hingehen. Deine zarte Haut gehört woanders hin."

Als Kyril aufstand, fielen die losen Ketten zu Boden und passten nicht mehr zu seiner menschlichen Gestalt.

Er war so nackt wie an dem Tag, an dem er geboren wurde, und aufrecht.

Lilac quiekte und schaute weg. Sie hatte noch nie einen Mann wie diesen gesehen.

Peinlich berührt, die Wangen vor Hitze glühend, wagte sie nicht, ihn anzuschauen. Aber dann hörte sie wieder dieses tiefe Knurren einer Stimme.

"Lilac, sieh mich an."

Sie tat es, wobei sie dieses Mal ihre Augen auf sein Gesicht richtete. Er trat näher, und sie spürte, wie ihr Herz gegen ihre Brust schlug.

Die Art und Weise, wie er sie ansah, ergab langsam einen Sinn.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Die Art und Weise, wie sein Duft nach ihr gerufen hatte.

"Lilac", sagte Kyril, nahm ihre Hände und drückte sie an seine Brust, "alles, was du siehst, gehört dir."

Und jetzt wusste sie, warum. Sie hatte es gewusst, seit sie seinen Namen gehört, ihn gerochen, ihn gesehen hatte. Jeder ihrer Sinne hat es förmlich herausgeschrien.

"Weil du, Lilac, meine Gefährtin bist."

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