
Seroje: Das allsehende Auge
Seroje sieht die Welt anders – und vergisst kein Detail. Ihr scharfer Verstand macht sie zu einer unersetzlichen Ermittlerin für OSLO, doch ihr Einzelgängertum bringt sie unter Verdacht. Als ein stiller, rätselhafter Milliardär sie zum Dinner einlädt, sagt sie zu – mehr aus Pflichtgefühl als aus Lust. Doch ein plötzlicher Angriff reißt sie in ein gefährliches Spiel, und ihr neuer Auftrag lautet ausgerechnet auf den Mann, den sie gerade in ihre Welt gelassen hat.
Zerrissen zwischen Vertrauen und Misstrauen, kann sie das Gefühl nicht abschütteln, dass alle sie beobachten – einschließlich der einen Person, auf die sie sich eigentlich verlassen wollte. Während die Gefahr näher rückt, muss sie entscheiden, wie weit sie gehen wird, um den Mann zu beschützen, der ihr größtes Risiko sein könnte – oder ihr einziger sicherer Hafen.
Kapitel 1
Seroje hob die Waffe mit beiden Händen und zielte. Sie blickte nach unten, sah unruhig über den Schießstand. Die Neun-Millimeter-Pistole fühlte sich größer an, als ihr lieb war. Sie war geliehen.
„Nein, du musst richtig zielen. Schau durch die Visierung“, meinte der Ausbildner und hob mit seiner Hand ihr Kinn an.
Es störte sie. Sie musste nicht aufschauen, um das Ziel zu sehen – eine schwarze Silhouette, die den Oberkörper eines Mannes darstellte. Außerdem war das Ding nur zehn Meter entfernt. Bei dieser Distanz konnte sie unmöglich verfehlen.
„Ich hab's im Griff“, erwiderte sie und wünschte sich, der Mann würde zurücktreten und aufhören, sie anzufassen. Dies war nicht das erste Mal, dass sie eine Waffe in der Hand hatte. Sie konnte damit umgehen. Außerdem wollte sie das hier einfach hinter sich bringen.
Sie ließ den Blick wieder sinken, nachdem sie bereits gezielt hatte.
„Blick nach vorn. Lass den Finger neben dem Abzug, bis du bereit bist zu feuern“, sagte der Ausbilder und berührte ihre Hand, um ihr zu zeigen, wie sie die Pistole halten sollte.
Seine Berührung brachte sie aus dem Konzept.
„Geh zur Seite“, sagte Seroje scharf. „Ich kann nicht schießen, wenn du daneben stehst. Du stehst direkt im Auswurfbereich der Patronenhülsen.“
„Du musst deine Haltung korrigieren“, entgegnete er.
„Geh zur Seite“, wiederholte Seroje leise. Sie wusste, dass sie nicht laut sprechen musste, da keiner von ihnen einen Gehörschutz trug. Ihre Waffe hatte einen Schalldämpfer. Außerdem waren sie die Einzigen auf dem Schießstand.
Der Stand war längst geschlossen, die Angestellten warteten nur darauf, dass sie endlich fertig wurden.
Seroje hörte den Ausbilder seufzen, aber er trat drei Schritte zurück. Sie nutzte den Moment, hob die Waffe leicht an, visierte und feuerte zweimal.
Ihre Schüsse trafen das Ziel mitten ins Herz.
Dann änderte sie den Schusswinkel und schoss schnell weiter, abwechselnd auf die Stirnmitte und das Herz, bis sie die restlichen fünfzehn Schuss aus dem Magazin abgefeuert hatte.
Seroje entlud das Magazin und spannte den Schlitten, um zu zeigen, dass keine Patronen mehr im Lauf waren – so, wie man es ihr einst beigebracht hatte. Dann legte sie die Waffe samt Magazin auf den Tisch.
Der Ausbilder starrte sprachlos auf das Ziel.
„Ich musste doch nur ein Magazin leer feuern, oder?“, fragte Seroje, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Sie wollte ihn ein wenig provozieren. „Um meine wöchentliche Quote für die Arbeit zu erfüllen?“
„Ja“, bestätigte der Mann leise, immer noch auf das Ziel starrend.
Seroje drückte auf den Knopf, der die Zielscheibe zu ihr zurückholte, riss das Papier von den Halterungen und verließ den Schießstand.
Sie hatte die Nase voll von all den Formalitäten. Und sie musste das Ziel noch unterschreiben und bei ihrem Chef einreichen – als Nachweis. Wie albern.
Ihre Schicht begann in einer Stunde, und sie musste noch nach Hause, um sich umzuziehen. Sie hasste es, in Zeitnot zu geraten, besonders wenn sie nichts dafür konnte.
Sie trat aus dem Gebäude und ging zu ihrem Auto, hielt aber inne. Jemand hatte sein Taxi direkt hinter ihr geparkt.
„Entschuldigung. Bin ich im Weg?“, fragte eine Stimme.
Seroje beobachtete, wie ein Mann in abgewetzten Jeans und einem ärmellosen Shirt auf das Taxi zulief. Er hielt ein Kätzchen. „Streuner“, meinte er. Dann stieg er ein und fuhr davon.
Seroje dachte noch über den ungewöhnlichen Anblick des Taxifahrers nach, der ein Kätzchen rettete, bis sie zu Hause ankam. Dort überlegte sie sich ihren Plan für den Abend, während sie in einen grauen Rock und ein passendes Jackett mit weißer Bluse schlüpfte, um wie eine Büroangestellte auszusehen.
Irgendetwas an dem Auftrag war ihr nicht geheuer.
Sie seufzte genervt, schnappte sich ihre Ausrüstung und machte sich wieder auf den Weg zu ihrem Auto. „Ich spiele eine Büroangestellte, die so tut, als wäre sie eine Hoteldetektivin – während ich in Wirklichkeit Clive Daniel beschatte, irgendeinen reichen Typen in einem Hotel.“
Das Ganze wirkte zu umständlich. Sie hatte noch nie zwei verschiedene Rollen gleichzeitig gespielt. Und laut ihren Informationen war Clive Daniel nicht einmal besonders aufmerksam.
Clive war ein Geschäftsmann, gegen den Verdacht bestand, dass er gegen den Ethikkodex seiner Firma verstieß – sprich: möglicherweise Prostituierte engagierte. Seroje hätte ihn leicht aus dem Verborgenen beobachten können, um das herauszufinden. Eine Tarnung war völlig überflüssig.
Aber sie tat, was ihr Chef verlangte. Das war der Job.
Sie fuhr in das Parkhaus gegenüber vom Hotel und war froh, dass sie im Erdgeschoss parken konnte. Als sie die Lobby betrat, nahm sie jedes Detail auf, aber hauptsächlich interessierte sie, ob Clive bereits da war.
War er nicht.
Seroje meldete sich beim Hotelmanager Patel, einem Mann in einem perfekt sitzenden dunklen Anzug. Dieses Hotel richtete sich an wohlhabende Urlauber, daher musste jeder Angestellte eine tadellose und ordentliche Uniform tragen.
„Sie wollen mich in der Lounge im zweiten Stock über der Lobby?“, fragte sie zur Bestätigung.
Er nickte nur. Sie hatte den Eindruck, dass er sie nicht besonders mochte. Und sie wusste nicht, ob er den wahren Grund ihres Einsatzes kannte.
Das war ohnehin nichts, worüber sie sprechen würde, also spielte es keine Rolle. Sie drehte sich um und stieg die Treppe hinauf zur Lounge, wo sie sich auf ein beigefarbenes Sofa setzte. Sie hatte erwartet, dass der Bereich leer sein würde, und so war es auch.
Vorsichtig holte sie ihren Laptop aus der Aktentasche, zusammen mit mehreren leeren Aktenordnern, um den Anschein einer fleißigen Büroangestellten zu erwecken.
Sie stellte sogar eine leere Coladose daneben, um den Eindruck zu erwecken, sie säße schon eine Weile hier.
Ihr Blick wanderte über die zwei Holztische an den Enden des Sofas. Auf jedem Tisch stand eine Lampe mit geschwungenen, schwarzen Mustern. Zwei bequeme, beigefarbene Sessel, die einander zugewandt waren, vervollständigten die Loungemöbel.
Sie fand es schlicht, aber geschmackvoll.
Von der Lounge aus verlief ein breiter Gang in beide Richtungen – sie wusste, dass er um das ganze Hotel herum verlief. Sie war ihn zuvor abgelaufen, um sicherzugehen. Zu ihrer Linken führte eine Treppe hinunter in die Hauptlobby.
Dieser Platz bot ihr einen hervorragenden Überblick über den Bereich und die vorbeigehenden Leute. Von hier konnte sie auch Stimmen aus der Lobby und der Bar hören: Gespräche und Gelächter von Leuten, die unten feierten.
Nur eine Stimme war klar zu verstehen – ein Mann mit tiefer Stimme, der ununterbrochen über seine Hunde sprach. Seroje schloss daraus, dass er in der Nähe der Treppe sitzen musste, was seine Stimme zu ihr herauftrug.
Sie fand ihn stinklangweilig.
All diese Eindrücke erfüllten Serojes Sinne. Ihre haselnussbraunen Augen, unfokussiert und stets in Bewegung, nahmen jedes Detail um sie herum wie eine filmende Kamera auf.
Jedes Geräusch, das sie hörte, analysierte sie. Zwei Frauen gingen den Flur entlang auf sie zu, ein Mann ging hinter ihnen her. Die Leute unten redeten weiter. Sie nahm den Aftershave-Duft von jemandem wahr. Das Sofa war zu hart.
Als die Frauen vorbeieilten, wirbelten sie ein kleines Stück Papier auf, das Serojes Aufmerksamkeit erregte. Es wirkte fehl am Platz, und die Farbe des Papiers kam ihr seltsam bekannt vor.
Sie unterdrückte den Impuls, es aufheben. Sie durfte sich nicht bewegen. Also atmete sie tief durch und ließ das Gefühl vorübergehen.
Die Frauen waren ohnehin irrelevant. Um die angestaute Energie loszuwerden, strich sie sich eine Strähne ihres schulterlangen, erdbeerblonden Haars hinters Ohr, aus dem Gesicht.
Sie tat dies dreimal, während sie starr geradeaus blickte. Die leere Dose neben ihr schien sie zu verspotten. Sie hätte gerne eine Cola gehabt.
Es war 22:45 Uhr.
Seroje betrachtete den Mann, der den Frauen folgte. Es war nicht der, nach dem sie Ausschau halten sollte. Zu ihrem Ärger setzte er sich in den Sessel zu ihrer Rechten, um zu telefonieren.
Sie fand ihn attraktiv, aber sie war nicht deswegen hier.
Seroje schätzte ihn auf Ende dreißig, da er bereits ein paar graue Strähnen in seinem braunen Haar hatte. Er hatte wunderschöne, braune Augen. Sein dunkler Anzug sah teuer und maßgeschneidert – perfekt für diese Umgebung.Er wirkte fit und durchtrainiert.
Allerdings war klar, dass er nicht im Urlaub war.
„Niemand ist aufgetaucht“, hörte sie ihn sagen, was sie vermuten ließ, dass er sein Büro wegen eines nicht erschienenen Kunden kontaktierte. „Bin ich im richtigen Hotel?“
Seroje ließ sich nichts anmerken. Es ging sie nichts an.
Der Mann, der unten über seine Hunde gesprochen hatte, musste gegangen sein, denn sie hörte ihn nicht mehr. All die Gespräche in der Lobby und Bar waren jetzt nur noch ein Hintergrundgeräusch, das sie leicht ausblenden konnte.
Zwei männliche Hotelangestellte in ihren schicken, roten Uniformen kamen zielstrebig die Treppe herauf.
Sobald sie weit genug von der Treppe entfernt waren, hielten sie an, zogen Zigaretten heraus und benutzten eine Coladose als Aschenbecher. Rauchen war im Gebäude verboten.
Seroje begann auf ihrem Laptop zu tippen und schickte eine Nachricht an Patel. Ihre Tarnung als Hoteldetektivin bedeutete, dass sie das Fehlverhalten des Personals melden musste.
Es war eine lästige Pflicht, die ihre eigentliche Arbeit behinderte. Niemand, der Clives Beschreibung entsprach, war bisher aufgetaucht, und die Hälfte ihrer Zeit war schon verstrichen. Aber sie konnte nicht nach ihm suchen gehen, weil es ihr verboten war, sich zu bewegen.
Hatte ihr Chef sie auf den Arm genommen?
Patel kam die Treppe herauf und wirkte stinksauer. Er steckte gerade sein Handy ein – vermutlich hatte er ihre Nachricht gelesen. Seine dunklen Augen erblickten die beiden Angestellten, und er ging auf sie zu.
Die Angestellten zuckten zusammen, drückten ihre Zigaretten in der Coladose aus und begannen, sich stammelnd zu entschuldigen. Patel brachte sie zum Schweigen und führte sie zur Hintertreppe. Wahrscheinlich würde er sie feuern.
Der Mann im Sessel beendete sein Gespräch und tätigte einen weiteren Anruf. Diesmal klang es so, als würde er mit jemandem Schluss machen. „Schau, ich kann dich nicht glücklich machen, und du machst mich auch nicht glücklich“, sagte er leise.
Er saß ganz still da, fast zehn Minuten lang hörte er nur zu. „Du machst mich immer noch nicht glücklich. Ich denke, das ist alles, was wir tun können. Mach’s gut.“
Ja, Seroje war sich ziemlich sicher, dass er gerade mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte. Vielleicht hatte er sich deshalb in ihre Nähe gesetzt – um gleich einen Ersatz zu finden. Dafür hatte sie keine Zeit. Allerdings war er wirklich attraktiv.
Seroje wollte aufstehen und sich umsehen,um Clive zu finden. Aber ihr Chef war in seinen Anweisungen sehr deutlich gewesen. Sie sollte in der Lounge bleiben, entweder für die festgelegte Zeit oder bis Clive auftauchte.
Ein weiterer männlicher Hotelangestellter kam durch die Lounge, gefolgt von einem Zimmermädchen. Beide blieben abrupt stehen, als sie den Mann im dunklen Anzug sahen.
Das erregte Serojes Aufmerksamkeit. Sie sahen eindeutig ihn an, nicht sie.
Dann gingen sie rückwärts, und sie hörte, wie einer von beiden murmelte: „Er ist im falschen Hotel.“
„Da hat jemand Mist gebaut“, stimmte die andere Person zu.
Seroje starrte sie an. Sobald sie bemerkten, dass sie beobachtet wurden, drehten sie sich um und machten sich aus dem Staub.











































