
Die Drachenbraut
Catori wächst in einem schneebedeckten Dorf auf, in dem die Geheimnisse tiefer reichen als das Eis. Unruhig und wild sehnt sie sich nach einem Leben jenseits von Schweigen und Gehorsam. Doch dann reißt das Schicksal ihre Welt auf – und enthüllt, dass noch immer Drachen durch die Lüfte gleiten und ihre Verbindung zu ihnen heller lodert, als sie es je für möglich gehalten hätte. Was als Auflehnung beginnt, wird zu einer Reise, verstrickt in Liebe, Loyalität und Macht. Schlachten wecken uralte Kräfte, Bündnisse stellen ihr Vertrauen auf die Probe, und Leidenschaft flammt im Schatten auf. Jeder Herzschlag bringt sie näher an einen Thron, geschrieben aus Feuer und Verlust, wo Begierde auf Schicksal prallt. In einer Welt, in der Liebe eine Waffe und Loyalität ein Schild ist, muss Catori entscheiden, ob sie bereit ist, die Krone zu ergreifen, die in ihrem Blut auf sie wartet.
Kapitel 1
Es war einmal … nein, so fängt diese Geschichte nicht an.
Dies ist die Einöde, Middleton.
Ein winziges Dorf, irgendwo westlich des Mondes und östlich der Sonne versteckt, kaum ein Punkt auf der Landkarte des Landes Charming.
Hier leben nur zweihundertfünfundsiebzig Menschen.
Komisch, oder?
Ein Hauch von Charming mitten in der Einöde – oder vielleicht eher ein Hauch von Einöde in Charming.
Jedenfalls ist dieser Ort nicht wie die netten Kleinstädte, die man aus Filmen kennt.
Es sei denn, du denkst an einen alten Schwarz-Weiß-Film, in dem alle in Pelze gehüllt sind, die Straßen aus aufgebrochenem Beton bestehen und die Hauptstadt sich anfühlt, als läge sie auf einem anderen Planeten.
Kein Starbucks.
Kein Supermarkt.
Nur Tauschhandel – Fisch gegen Getreide – wenn das Wetter nicht so eisig ist, dass selbst die Sonne gefroren scheint.
Die Oberschule und der Kindergarten teilen sich ein Gebäude. Eine Tafel. Die Lehrer sind steinalt und können sich kaum an ihre eigenen Namen erinnern.
Ein paar waren klug genug abzuhauen. Der Rest – entweder zu stur oder zu ahnungslos – blieb.
Der Dorfvorsteher und seine Leute wohnen im Norden, wo Besucher zuerst ankommen.
Die ärmeren Familien hausen im Süden, versteckt vor wichtigen Gästen oder jedem mit Geld in der Tasche.
Die Mittelschicht?
Die ist überall verstreut, als hätte jemand so getan, als gäbe es weder Klassismus noch irgendeinen anderen „-ismus“.
Die Einöde ist simpel.
Unkompliziert, irgendwie.
Aber sie ist kein freundlicher Ort.
Die Alten sind meist festgefahren – schnell auf der Palme, langsam im Begreifen.
Ehrlich gesagt hätten sie es Schnarchburg nennen sollen.
Hier passierte nie etwas.
Na ja – bis jetzt.
Niemand sah es kommen.
Nicht einmal der Dorfbote, dessen Tochter schwor, sie könne dank eines Orakels in die Zukunft blicken.
Geschichten.
Das waren sie alle.
Märchen, die Mütter ihren Kindern erzählten, um sie nicht zu glauben, und sie albern und gefährlich nannten.
Aber was, wenn sie wahr wären?
Die Sonne sank tief und tauchte den zugefrorenen See in goldenes Licht, während die Berge in sanftes Bernsteingelb getaucht wurden.
Eine Handvoll Jugendlicher – keiner älter als zwanzig – kauerte am Ufer, wo das Eis aufgebrochen war und das Wasser dunkel und kalt lag.
Sie wickelten sich in Decken, zitternd vor Kälte, aber sie gingen nicht weg.
Sie alle beobachteten dieselbe Person.
Der alte Tamas saß auf seinem Lieblingsstein, gebeugt, aber immer noch stolz, in einen abgetragenen Umhang gehüllt.
Seine Angelschnur durchschnitt die Stille und zuckte ab und zu.
Neben ihm lag ein Beutel mit gesalzenem Trockenfleisch und eine Blechflasche, die nach Holunderbeere – und etwas Stärkerem – roch.
Catori saß mit gekreuzten Beinen im Schnee, Halona direkt neben ihr.
Sie hörten mit großen Augen zu.
Einige andere aus der Einöde waren auch da.
Calian, einer der selbstgefälligen Söhne des Vorstehers, fläzte sich in der Nähe mit einem überheblichen Grinsen.
Einige der anderen Jungs und Mädchen tuschelten und warfen Tamas skeptische Blicke zu.
„Es war kurz nach Frosteinbruch“, begann Tamas, seine Stimme rau und tief, die Art, die alles wie eine Legende klingen lässt.
„Als die Nächte länger waren als die Tage und der Himmel sich mit rotem Feuer öffnete. Wir dachten, es wäre nur ein Sturm. Aber oh, es war kein Sturm …“
Er beugte sich vor, seine Augen wurden schmaler, als könnte er alles wieder vor sich sehen.
„Ich war nur ein Knirps, etwa in eurem Alter. Auf der Jagd mit meinem Vater, als der Boden zu beben begann. Dann kam dieses Brüllen – als würden die Berge selbst stöhnen. Wir schauten hoch und da war es. Flügel so groß wie Segel. Schuppen, die grün und golden glänzten, als hätte jemand die Sonne verschüttet. Ein Drache, so klar wie die Sterne. Er flog direkt auf die Berge zu.“
Jemand in der Gruppe schnaubte verächtlich.
Tamas blinzelte nicht einmal.
Er machte einfach weiter, seine Stimme wurde lauter, dramatischer.
„Man sagt, Drachen waren einst Götter – die während des ersten Krieges zwischen Menschen und Geistern vom Himmel fielen. Ihr Feuer formte die Flüsse, ihre Klauen spalteten die Klippen und ihre Herzen sind in den Gipfeln begraben. Deshalb wächst nichts oberhalb der Baumgrenze – es ist heilig. Zu viel Macht schlummert dort oben.“
Calian lachte laut und spöttisch auf. „Das ist eine niedliche Geschichte für Kinder. Mein Vater sagt, das sind nur Gutenachtgeschichten, Tamas. Zeug, um dich warmzuhalten, wenn dir nur noch Suppe und Schatten bleiben.“
Die Gruppe lachte und folgte Calians Vorbild.
Tamas sah ihn lange und sehr ruhig an. „Dein Vater vergisst, dass das alte Blut tiefer fließt als seine Ratsversammlungen.“
Calian grinste selbstgefällig. „Du glaubst also wirklich, dass Drachen in diesen Bergen leben? Dass du tatsächlich einen gesehen hast?“
„Ja“, sagte Tamas mit fester Stimme. „Und ich bin nicht der Einzige – nur der Einzige, der noch am Leben ist, um davon zu erzählen.“
Gelächter brach aus, scharf und gemein.
Jemand schnaubte und ein anderer murmelte: „Senil.“
Aber dann stand Catori auf, den Rücken gerade. „Ich glaube ihm.“
Alle Köpfe drehten sich zu ihr.
Ihre Wangen waren rosa, aber nicht von der Kälte.
Die Stille war schwer, bis jemand leise kicherte.
Calian trat vor, sein Grinsen voller Selbstgefälligkeit und Herablassung. „Sei nicht kindisch, Catori. Nur jemand mit einer einzigen Gehirnzelle würde dem Geschwafel dieses Narren glauben.“
Das brachte noch mehr Lacher, sogar von Leuten, die nicht wussten, auf welche Seite sie sich schlagen sollten.
Halona stand ebenfalls auf, das Kinn gehoben. „Nur weil du es nicht glaubst, heißt das nicht, dass es nicht real ist.“
„Ach bitte, Halona“, sagte Calian und verdrehte die Augen. „Du verteidigst sie nur, weil sie dein kleiner Schatten ist.“
Catori presste die Zähne so fest zusammen, dass es fast schmerzte. „Es ist mir egal, was du denkst, Calian. Nicht alles muss bewiesen werden, um wahr zu sein. Manche Dinge spürt man einfach. Man weiß es.“
Tamas ließ ein trockenes, kratziges Lachen hören. „Lach nur jetzt, Junge. Aber merk dir meine Worte – wenn der Himmel wieder brennt und du Flügel über deinem Haus siehst, komm nicht weinend zum verrückten alten Mann.“
„Ich werde mein Glück versuchen“, sagte Calian und verbeugte sich theatralisch. „Viel Glück mit den Himmelsgöttern, meine Damen.“ Er ging weg, seine Freunde folgten ihm, immer noch lachend.
Halona ließ sich neben ihr nieder und klopfte sich den Schnee von ihrem Mantel. „Weil sie dumm sind. Es ist einfacher, sich über das lustig zu machen, was man nicht versteht, als zuzugeben, dass man vielleicht gar nichts weiß.“
Der alte Tamas schenkte Catori ein schiefes Lächeln. „Lass nicht zu, dass sie deinen Geist vergiften, Mädchen. Du hast die Gabe. Ich kann es spüren. Diese Art von Feuer? Es zieht die Wahrheit an.“
Sie sah ihn unsicher an. „Die Wahrheit?“
Er nickte, die Augen ernst. „Die Drachen erwachen wieder. Und sie rufen immer diejenigen, die sie hören können.“
Catori blieb zurück, nachdem alle anderen gegangen waren, und kauerte am Rand des Wassers. Sie ließ ihre Finger durch das eisige Flachwasser gleiten, in Gedanken verloren. Sie hörte ihn nicht, bis der Schnee unter seinen Stiefeln knirschte.
„Gehst du allein nach Hause?“, fragte Calians Stimme sanft, fast freundlich.
Catori antwortete nicht sofort. Sie stand langsam auf, klopfte ihren Mantel ab, die Augen immer noch auf den dunklen Horizont gerichtet. „Warum interessiert dich das?“
Er zuckte mit den Schultern und trat näher – viel zu nah. „Ich bin nur anständig. Es ist ein langer Weg zurück und es ist kalt. Niemand will dich morgen früh erfroren wie ein Schneehas vorfinden.“
Sie seufzte müde. „Schön. Komm mit, wenn du willst.“
Sie gingen schweigend, das einzige Geräusch war das leise Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln und das Knacken des Eises auf dem See.
Dann sprach Calian wieder. „Weißt du, wenn du mit mir zusammen sein wolltest, müsstest du mit diesem ganzen Drachengerede aufhören.“
Catori sah ihn scharf an. „Wie bitte?“
Er grinste selbstgefällig. „Die Geschichten. Die Fantasien. Du müsstest damit aufhören. Dich nicht mehr vor der ganzen Stadt zur Närrin machen.“
Sie blieb stehen, ihr Atem bildete eine Wolke. „Wer sagt, dass ich mit dir zusammen sein will?“
Calian drehte sich um, die Augenbrauen hochgezogen, amüsiert. „Komm schon, Catori. Jeder sieht, wie du schaust, wenn ich in der Nähe bin.“
Ihr Lachen war scharf, fast bitter. „Du bist wahnsinnig.“
Er trat näher, seine Augen verließen nie ihre. „Wirklich? Denn du bist auch nicht umgedreht und gegangen.“
Catori verschränkte die Arme und umarmte sich selbst fest. „Du magst einfach die Vorstellung, dass jemand dich will, der dir nicht schon bei jedem Wort hinterherläuft. Darum geht es hier.“
Er gluckste und neigte den Kopf. „Vielleicht. Oder vielleicht sehe ich etwas in dir. Etwas Wildes. Ungezähmtes. Das könnte gefährlich sein … oder nützlich.“
Ihre Augen verengten sich. „Nützlich?“
Er zuckte nicht einmal bei der Schärfe in ihrer Stimme. „Schau, ich könnte dir ein gutes Leben bieten. Dir würde es an nichts fehlen. Du hättest die besten Kleider, jeden Tag eine warme Mahlzeit, echten Respekt. Alles, was du tun müsstest, wäre gehorsam zu sein. Keine Rebellion mehr. Keine Drachengeschichten mehr.“
Sie schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Du denkst, ich würde meine Stimme, meinen Verstand aufgeben, nur um die Frau von einem der verwöhnten Bälger des Vorstehers zu sein?“
Sein Gesicht verzog sich für einen Moment, aber dann glättete er es wieder mit demselben alten selbstgefälligen Grinsen. „Du denkst, du bist zu gut für die Einöde, nicht wahr?“
„Ich denke, ich will etwas Echtes“, sagte sie, ihre Stimme zunächst leise, dann lauter, „nicht die Illusion von Sicherheit mit einem Halsband um meinen Hals.“
Sie standen da im Schnee, ihr Atem bildete kleine Wolken in der eisigen Luft. Ihre Blicke waren aufeinander fixiert, als würden sie einander herausfordern, wer zuerst wegschaut.
„Du bist Feuer, Catori“, sagte Calian, seine Stimme sanft, aber bestimmt. „Aber Feuer kann gefährlich sein, wenn es sich selbst überlässt. Es braucht Kontrolle.“
„Vielleicht will ich nicht kontrolliert werden.“
Er lächelte, nur ein wenig. „Ich könnte dir beibringen, wie man dieses Feuer nutzt, wenn du es zulässt.“
Sie drehte sich um, um weiterzugehen, aber er stellte sich vor sie und blockierte ihren Weg. Bevor sie reagieren konnte, beugte er sich vor und küsste sie – schnell und scharf, als würde er etwas stehlen.
Sie erstarrte. Ihr ganzer Körper hörte einfach auf sich zu bewegen, als hätte er vergessen wie.
Dann stieß sie ihn hart weg. „Was zum Teufel sollte das?“, fauchte sie.
Er grinste, aber in seinen Augen war etwas Dunkleres, etwas, das sie nicht ganz benennen konnte. „Ein Geschenk“, sagte er. „Du wirst mehr wollen. Eines Tages.“
„Ganz bestimmt nicht“, schoss sie zurück, wirbelte herum und stürmte davon.
Diesmal folgte er ihr nicht.
Dann änderte sich etwas.
Ihr Atem stockte plötzlich und scharf. Eine seltsame Enge presste ihre Brust zusammen, als würden unsichtbare Hände auf ihre Rippen drücken.
Sie stolperte, griff nach ihrem Mantel und versuchte wegzukrallen, was auch immer ihre Lungen zerquetschte. Ihr Herz schlug so laut, dass es sich anfühlte, als würde es in ihren Ohren widerhallen.
„Was … passiert hier?“, keuchte sie und fiel auf die Knie in den Schnee.
Ihre Sicht verschwamm, aber nicht von Tränen. Es war, als würde die ganze Welt kippen, sich zur Seite neigen.
Ihr Atem kam in kurzen, abgehackten Stößen. Sie presste die Hände auf ihre Brust, ihre Finger zitterten, die Nägel gruben sich in den Stoff, während sie verzweifelt versuchte zu atmen.
Dann – nichts.
Nur Stille.
Regungslosigkeit.
Sie blinzelte und die Welt sah … falsch aus.
Alles war in weiches Silber getaucht, die Bäume leuchteten, als wären sie in Mondlicht getränkt. Der Schnee unter ihr glimmte ebenfalls schwach, aber sie konnte ihn nicht mehr spüren.
Die Kälte war weg.
Und dann sah sie sich selbst.
Ihr Körper lag im Schnee, zusammengesunken, bewegungslos. Ihre Arme waren um ihre Brust geschlungen, ihre Augen weit aufgerissen und geschockt.
Aber sie war darüber.
Schwebend.
Schwerelos.
Losgelöst.
Catori versuchte zu schreien, aber nichts geschah. Ihr Mund bewegte sich nicht einmal.
Sie starrte einfach auf ihren eigenen Körper hinunter, als wäre ihr Geist aus ihr herausgerissen worden – wie eine Seite aus einem Buch.
Sie keuchte auf, als würde sie nach langem Unterwassersein wieder auftauchen. Ihr Körper bog sich, Atem strömte wieder in ihre Lungen.
Die Welt sprang zurück in die Normalität, die Farben wurden matter, die Kälte biss wieder in ihre Wangen. Ihre Knie brannten vom gefrorenen Boden.
Was auch immer es gewesen war – es war vorbei.
Sie rappelte sich auf, keuchte, ihre Hände zitterten so stark, dass sie kaum stehen konnte. Schweiß klebte an ihrer Haut, obwohl es eisig kalt war, und ihr Herzschlag war völlig unregelmäßig.
Sie stolperte zurück zum Dorf, fiel fast mehr als einmal, als sie durch den Schnee rannte.
Sie hielt nicht an. Nicht, als sie den Rand der Einöde erreichte, wo das Feuerlicht flackerte. Erst als sie ihre Tür zuknallte, sie abschloss und immer noch zitternd auf ihr Bett fiel.
Sie starrte an die Decke, ihr Herz hämmerte immer noch so laut, dass sie kaum etwas anderes hören konnte.
Etwas war passiert.












































