Annie Whipple
BELLE
Evergreen, Maine, so stand es auf dem Ortsschild. ~Der schönste Ort der Welt.~
Ja, von wegen.
Ich saß auf einer Bank am Straßenrand und beobachtete die Leute, die an mir vorbeigingen. Mein Koffer stand auf der einen Seite, mein Rucksack auf der anderen. Warum zum Teufel war ich hierhergekommen?
Das war nie mein Plan gewesen. Eigentlich hatte ich gar nicht geplant, irgendwo hinzugehen. Als ich in Minnesota in einen Greyhound-Bus gestiegen war, hatte ich keine Ahnung gehabt, wo ich letztendlich landen würde.
Ich wusste nur, dass ich so weit wie möglich von Grayson und meinem alten Leben wegkommen wollte. Und genau das hatte ich getan.
Stundenlang war ich im Bus gesessen und hatte zugesehen, wie wir durch die verschiedenen Städte fuhren, einen Staat nach dem anderen. Jedes Mal, wenn wir eine neue Haltestelle erreicht hatten, hatte ich den Bus gewechselt und mich schließlich für eine Reise in den Norden entschieden.
Ich war so weit nach Norden gefahren, wie ich konnte, ohne Kanada zu betreten, bis ich schließlich hier gelandet war: In einer kleinen Stadt in Maine, so weit weg von den schlechten Erinnerungen, wie es nur möglich war.
Evergreen war schön und malerisch. Es war auch ein Touristenziel – ein schönes Ziel für reiche Familien, die ihren Urlaub an der Küste verbringen wollten.
Die Hauptstraße, auf der sich alle Geschäfte und Restaurants befanden, blickte auf den Atlantik.
Und wenn man sich in die entgegengesetzte Richtung drehte, erblickte man die Berge und ein riesiges, schickes Skigebiet, in dem im Winter sicher viel los war.
Die Strände waren voller Touristen, die im Meer schwammen und sich in der heißen Sommersonne bräunen ließen.
Im Zentrum der Stadt waren die Geschäfte auf beiden Seiten der Straßen gleichmäßig angeordnet und lockten die Leute mit ihren schönen Schaufenstern und teuren Waren an.
Die Straßenlaternen beleuchteten die malerischen Kopfsteinpflasterstraßen, und jeder schien jeden zu kennen. Überall begegnete ich Familien und lächelnden Gesichtern.
Zuerst schätzte ich mich glücklich, hier gelandet zu sein. Ich konnte mir gut vorstellen, mich in dieser Stadt niederzulassen und ein ganz neues Leben zu beginnen, in dem mich niemand finden konnte.
Ich fühlte mich wie Lorelai Gilmore, die zum ersten Mal nach Stars Hollow kam und bereit war, sich von ihrer toxischen Vergangenheit zu lösen.
Aber nachdem ich fast einen ganzen Tag hier verbracht hatte, wurde mir schnell klar, dass Evergreen nicht mit Stars Hollow zu vergleichen war.
Sicher, die Stadt sah aus, als wäre sie direkt aus einem Hallmark-Film entsprungen, aber die Einheimischen hätten besser in eine Folge von The Twilight Zone gepasst.
Ich konnte sie nur als …seltsam beschreiben~.~ Es war, als ob sie irgendwie wussten, dass ich nicht eine Touristin war, der sie Geld abluchsen konnten.
Sie starrten mich im Vorbeigehen an, als wäre ich eine Art Zootier, das in ihrer malerischen Stadt frei herumlief.
Ich hörte sie ständig hinter meinem Rücken tuscheln, und wenn ich mich zu ihnen umdrehte, schauten sie schnell weg und taten so, als hätten sie mich nicht beobachtet oder über mich gesprochen.
Es fühlte sich an, als würde ich auf Schritt und Tritt beobachtet, und ich wusste nicht, wie ich mich dabei fühlen sollte.
Dabei war mir klar, dass ich deplatziert aussah.
Ich trug dieselben alten, zerknitterten Klamotten, die ich getragen hatte, als ich Grayson verlassen hatte, meine Haare mussten dringend ausgebürstet werden und mein Gesicht war noch immer nicht vollkommen verheilt, seit Grayson mir vor einigen Wochen den Wangenknochen gebrochen hatte.
Okay, „deplatziert“ war vielleicht nicht die beste Beschreibung für meinen derzeitigen Zustand … Ich war ein heilloses Durcheinander. Auf meiner Stirn hätte genauso gut stehen können: „Gerade einer missbräuchlichen Beziehung entkommen.“
Nach den Blicken, die ich von den Einheimischen erntete, hätte man meinen können, ich hätte drei Köpfe oder so.
Meine Priorität war heute, einen Job zu finden. Bis jetzt lief das allerdings nicht besonders gut. Jedes Mal, wenn ich einen Laden, ein Restaurant oder ein anderes Geschäft betrat, verhielten sich die Angestellten in meiner Nähe seltsam.
Die meisten wichen meinen Fragen aus, während andere mich wegschickten, ohne mich überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Manche mieden mich sogar ganz, als hätte ich die Pest.
Aber das war egal. Sie konnten so viel starren, wie sie wollten. Ich hatte beschlossen, dass ich das Beste aus dieser Situation machen wollte. Ich hatte es verdient, mich in einer so schönen Stadt wie dieser niederzulassen.
Ich hatte es verdient, ein gutes Leben zu führen, in dem ich nicht alle zwei Sekunden an Grayson denken musste. Und so sehr ich mich auch bemühte, das zu erreichen, wurde mir langsam klar, dass das leichter gesagt als getan war.
Je mehr ich versuchte, ihn und die Erinnerungen an das, was er mir angetan hatte, aus meinem Kopf zu verdrängen, desto stärker schienen sie in meinen Geist einzudringen.
Es war fast so, als wäre ich unfähig, an etwas anderes zu denken als an meinen Ex-Gefährten, den Mann, der mir das Herz aus der Brust gerissen und es in Millionen Stücke zerrissen hatte.
Der Schmerz war der schlimmste Teil davon. Mein ganzer Körper tat weh.
Meine Muskeln fühlten sich an, als wäre ich gerade einen ganzen Marathon ohne vorheriges Training gelaufen, als hätte ich auch nach dem Zieleinlauf weitergemacht und meinen Körper über seine Grenzen hinaus belastet, bis ich kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Meine Füße schleiften bei jedem Schritt und meine Schultern sackten vor Erschöpfung zusammen.
Graysons Mal an meinem Hals brannte wie damals, als er es mir vor all den Monaten zum ersten Mal verpasst hatte, und ich mich in einem Hotelzimmer eingeschlossen hatte, um mich von ihm fernzuhalten.
Es schien sich entzündet zu haben, war rot und fleckig.
Ich wusste, dass es noch schlimmer werden würde. Ich war mir nicht sicher, woher ich dieses Wissen nahm, aber ich spürte, dass es unsere Gefährten-Verbindung war, die uns wieder zusammenbringen wollte.
Dabei verstand mein Körper nicht, dass Grayson nicht mehr mein Gefährte war, dass er sich für eine andere Frau entschieden hatte, anstatt für mich.
Und dass er mich dazu gebracht hatte, mich in ihn zu verlieben, nur um mich auf die schmerzhafteste Weise zu zerstören und meine Liebe in den Schlamm zu werfen.
Aber so schlimm das alles auch war, nichts davon war mit dem Pochen in meinem Kopf zu vergleichen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Kopfschmerzen gehabt.
Ab und zu hatte ich einen dumpfen Schmerz gespürt, wenn ich kurz vor meiner Periode stand, aber das hier war damit nicht zu vergleichen.
Ich hatte es zum ersten Mal im Bus auf der Fahrt von Minnesota gespürt. Der Schmerz war plötzlich und durchdringend aufgetaucht, sodass ich mich vor lauter Intensität zusammengekrümmt hatte.
Es fühlte sich an, als ob ein wildes Tier in meinem Gehirn herumtobte und mit seinen Krallen an meinen Schädelwänden riss, um sich zu befreien.
Ich war schon versucht, mir etwas Scharfes in den Kopf zu stechen, um den Druck zu lindern. Es musste die schlimmste Migräne in der Geschichte der Welt sein.
Der Schmerz in meinem Kopf kam in Wellen, ließ nie nach, wurde aber gelegentlich stärker, ließ meine Sicht verschwimmen und das Mal an meinem Hals juckte, als würde es brennen.
Das Einzige, was ich tun konnte, war, die Zähne zusammenzubeißen und zu versuchen, es zu überstehen.
Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob das Graysons Art war, mich zu bestrafen.
Denn obwohl er sich mit einer anderen gepaart hatte, obwohl ich den Schmerz gespürt hatte, der mich fast umgebracht hatte und der mir bewies, dass er mich offiziell aufgegeben hatte, fühlte ich immer noch diese seltsame Verbindung zu ihm.
Aber die Sache war die: Ich hatte ihn gehen lassen. Ich hatte ihn aus meinem Gedächtnis verbannt und alles getan, was ich konnte, um sicherzustellen, dass er nicht mehr mit mir verbunden sein würde.
Es war also nicht ich, die uns noch aneinander band. Es war Grayson.
Das machte mich wütend. Er wollte mich nicht. Das hatte er mir deutlich zu verstehen gegeben.
Als ich noch mit ihm zusammengelebt hatte, hatte er nur mit mir gesprochen, um mir zu sagen, wie lästig ich war, oder wenn er versucht hatte, mich zum Sex zu zwingen.
Ich war nichts weiter als ein Werkzeug für ihn, ein Weg, um mehr Macht zu erlangen. Er hatte sich nie wirklich für mich interessiert.
Und doch versuchte er, in meine Gedanken einzudringen. Es erinnerte mich an das Gefühl, das ich gehabt hatte, als wir in Paris gewesen waren und ich vor ihm weggelaufen war, um meine Mutter zu sehen. Er hatte mich so schnell gefunden.
Es muss an der Verbindung gelegen haben, die wir miteinander gehabt hatten. Und als ich ihn in Minnesota verlassen hatte, hatte ich dafür gesorgt, dass er meine Gedanken nicht mehr würde sehen können.
Ehrlich gesagt war ich davon überzeugt, dass ihn das nicht interessieren würde. Aber ich hatte das seltsame Gefühl, dass diese überwältigenden, schrecklichen, intensiven Kopfschmerzen, die ich hatte, von Grayson stammten, weil er versuchte, mich im Auge zu behalten.
War es das, was er wollte? Wollte er wissen, wo ich war und was ich tat, nur für den Fall, dass er sich doch für mich entscheiden würde?
Tja, scheiß drauf. Unter keinen Umständen würde ich ihn wieder in meine Gedanken lassen.
Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich ihn liebte. Er hatte mich dazu gebracht, ihn zu lieben. Er hatte mir falsche Komplimente und leere Versprechungen über ein Leben mit ihm gemacht, das wie aus einem Märchenbuch zu kommen schien.
Es war diese Liebe, die mich dazu gebracht hatte, über seine Fehler und die Art, wie er mich behandelt hatte, hinwegzusehen und … zu ihm zurückzulaufen. Ja, das stimmte, trotz all der schrecklichen Dinge, die er mir angetan hatte, wollte ich immer noch mit ihm zusammen sein.
Ich fragte mich immer wieder, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, ihn zu verlassen, und versuchte mir einzureden, dass er mich gar nicht so schlecht behandelt hatte.
Dass es sich lohnen würde, in diesem eiskalten Raum im Keller zu bleiben und von allen um mich herum gemieden zu werden, sogar von meinem eigenen Seelenverwandten, wenn ich ihm dadurch nur ein kleines bisschen näher sein könnte.
Ich wollte ihm verzeihen.
Aber das konnte und durfte ich nicht tun. Obwohl ich das Gefühl hatte, gegen meine eigene Natur zu handeln, wusste ich, dass ich mit diesem Schmerz fertig werden musste.
Ich hatte etwas Besseres verdient. Das hatten wir beide. Grayson hatte etwas Besseres verdient, als mit jemandem zusammen zu sein, den er eigentlich nicht mochte und den er nur wollte, um noch mächtiger zu werden.
Und ich – ich hatte etwas Besseres verdient, als einem Mann nachzulaufen, der in mir nie mehr als einen Körper sehen würde, der sein Bett wärmte.
Er ließ mich meinen Selbstwert infrage stellen. Er ließ mich daran zweifeln, ob ich Liebe verdiente. Und das hasste ich. Ich hasste es, dass er mich an all die Menschen in meinem Leben denken ließ, die ich weggestoßen hatte, die mich verlassen hatten.
Meine Mutter hatte mich zurückgelassen, um eine neue Familie in einem fantastischen, neuen Land zu gründen, weit, weit weg von meinem Vater und mir. Sie hatte es nie gemocht, meine Mutter zu sein. Aus irgendeinem Grund hatte sie mich gehasst.
Mein Vater war an Krebs gestorben und hatte mich ganz allein zurückgelassen.
Und obwohl ich wusste, dass niemand daran schuld war, fragte sich ein Teil von mir immer noch, ob ich mich nicht ein bisschen mehr hätte anstrengen sollen, um ihm die Medizin zu kaufen, die er gebraucht hätte ...
Wenn ich nur ein bisschen mehr Zeit mit ihm im Krankenhaus verbracht hätte, anstatt nach der Schule mit Freunden rumzuhängen, wäre er dann heute noch am Leben? Würde ich meinen Vater noch an meiner Seite haben?
Sogar Kyle und Elijah – zwei Menschen, die mir in den letzten Monaten sehr wichtig geworden waren – hatten mich am Ende verlassen.
Ich hatte versucht, mir einzureden, dass es nicht ihre Schuld war. Ich wusste, dass sie bei mir geblieben wären, wenn sie eine Wahl gehabt hätten. Aber trotzdem hatten sie sich für ihren Alpha entschieden und nicht für mich.
Und schließlich war da noch Grayson. Ich war nicht einmal gut genug für meinen eigenen Gefährten. Gott, wenn er nicht über meine Fehler hinwegsehen konnte, um mich zu lieben, wer dann?
So sehr ich auch versuchte, mich davon abzuhalten, so sehr ich auch versuchte, mir einzureden, dass all diese Menschen aus ihren eigenen Gründen gegangen waren und es nichts mit mir zu tun hatte … nun, ich konnte es nicht glauben.
Es war schwer, nicht in meinen Erinnerungen zu wühlen und alle möglichen Dinge zu analysieren, die ich falsch gemacht haben könnte.
Ich wollte schreien. Und weinen. In den letzten Tagen war ich zugegebenermaßen im Selbstmitleid ertrunken.
Warum war ich nicht gut genug? Warum hatten mich alle, die mir wichtig waren, verlassen? Was hatte ich getan, dass Grayson mich so sehr hasste?
Ich hasste es, dass Grayson all diese Zweifel in mir weckte.
Er gab mir das Gefühl, dass mein ganzer Selbstwert davon abhing, was andere Leute von mir dachten, während ich in Wirklichkeit nur meine eigene Liebe brauchte.
Ich würde diejenige sein, die über ihre Fehler hinwegsehen konnte. Ich würde diejenige sein, die sich selbst liebte...auch wenn die Erinnerungen an Grayson, der mir sagte, ich sei nicht gut genug, das fast unmöglich erscheinen ließen.
Er konnte also so viel auf meinen Schädel einhämmern, wie er wollte. Ich würde ihn niemals hereinlassen. Ich war jetzt auf mich allein gestellt. Und so wollte ich es auch.