Die Millennium Wölfe - Buchumschlag

Die Millennium Wölfe

Sapir Englard

Das Märchen

SIENNA

Noch nie hatte ich Aiden so furchteinflößend gesehen – die Haare im Nacken waren aufgestellt, er fletschte die Fangzähne und stand mit blutdürstigen Augen über meinen Angreifer gebeugt. Dieser ging zum Gegenangriff über, aber Aiden hatte leichtes Spiel und warf ihn gegen die Ziegelwand.

Immer und immer wieder schlug er ihm mit animalischem Trieb in die Rippen, bis –

KNACK.

Ich schnappte nach Luft, als ich die Rippen brechen hörte. Er fiel zu Boden und blieb dort liegen, nur ein zerrupfter Abklatsch von einem Mann – armselig.

Mir liefen Tränen über das Gesicht. Emily. O mein Gott. Das war es, was sie vor vier Jahren erlebt hatte. Sie war vollkommen hilflos gewesen und verängstigt, in Panik und unfähig nach Hilfe zu rufen.

Ein Gefühl absoluter Dunkelheit. Niemand war für sie da gewesen. Ich war nicht für sie da gewesen.

Während ich dabei zusah, wie Aiden den schlaffen Körper des Mannes durch die Gasse zog, fühlte ich mich beinahe schuldig dafür, dass ich überlebt hatte und sie nicht. Ich wollte aufstehen und weglaufen, aber im Augenblick konnte ich nicht einmal kriechen.

Emily, ihr Vergewaltiger, mein Vergewaltiger, ihre Gesichter blitzen vor meinem inneren Auge auf. Ich wollte mich übergeben und all die schmerzhaften Gefühle aus mir rausbrüllen.

Ich zuckte zusammen, als Aiden sich neben mich kniete und seine Arme um mich legte. „Ich tue dir nichts“, sagte er zärtlich.

Gegen den Widerstand einer jeden Faser meines Körpers ließ ich mich von ihm in den Arm nehmen und zu seinem Auto tragen. Noch nie hatte ich mich in seiner Anwesenheit so verletzlich gefühlt, aber nun gaben mir seine warme Brust und seine kräftigen Arme ein Gefühl der Sicherheit.

Meine Hitze drohte nicht aufzukommen. Das hier war etwas anderes.

„Wohin bringst du mich?“, fragte ich ihn immer noch zitternd.

„Zu mir nach Hause“, antwortete er ruhig. „Ich verspreche, ich werde nichts versuchen. Ich möchte nur für dich da sein.“

Meine Freundinnen waren noch im Club, sie hatten nichts von dem Horror, der sich draußen abgespielt hatte, mitbekommen und so wollte ich es belassen. Ich konnte nicht wieder reingehen.

Nach Hause konnte ich aber auch nicht gehen, meine Eltern hätten sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Ich wollte mich den Fragen, der Scham und den Urteilen noch nicht aussetzen.

Mit Aiden zu gehen, war meine beste Option. Ich traute ihm immer noch nicht, aber was er gerade für mich getan hatte ... Mir wurde schlecht bei der Vorstellung, was hätte passieren können, wäre er nicht da gewesen.

Aiden, der eben noch ein wildes Biest gewesen war, das meinen Angreifer zerfleischt hatte, aber nun war er komplett gewandelt. Er war liebevoll und zärtlich.

So sehr ich ihn verabscheute, dafür, dass er mich markiert und mich dadurch dazu genötigt hatte, sein Geliebte zu sein, so dankbar war ich ihm im Augenblick. Da die Dinge zwischen uns mehr als unvorhersehbar waren, wusste ich nicht, wie lange das anhalten würde. Aber ich war bereit, ihm eine Chance zu geben.

Er wollte für mich da sein? Na gut, dann konnte er das nun unter Beweis stellen.

Schließlich gab ich nach und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Er setzte mich sachte auf den Beifahrersitz und schweigend fuhren wir los.

Ich beobachtete die verschwommenen Gebäude und Bäume, wie sie am Fenster vorbeizogen, so sollten auch die Erinnerungen an heute Nacht verschwinden, aber es gelang mir nicht, sie zu verdrängen.

Wenn ich mich gefürchtet hatte, dann musste Emily absolut traumatisiert gewesen sein.

Ich grub meine Fingernägel in Aidens teure Ledersitze. Nie mehr wollte ich mich so hilflos fühlen. Niemals wieder würde ich einem Mann erlauben, mich so zu behandeln. Ich sah zu Aiden rüber, meine Brust zog sich zusammen.

Ich konnte nicht länger in diesem Auto sitzen. Ich musste woanders sein, ich musste in Sicherheit sein.

Gerade als Panik in mir aufstieg, bog Aiden in die Einfahrt zu seinem Haus und plötzlich fühlte es sich an wie im Traum, als ob sich der sicherste und einladendste Ort der Welt einfach so vor mir aufgetan hätte.

Eine kleine Steinbrücke führte über einen plätschernden Bach hinauf zu einem bescheidenen Herrenhaus. Es war umgeben von Bäumen und einem perfekt gepflegten Blumengarten. Es schien wie im Märchen.

Vielleicht wusste ich doch nicht alles über Aiden? Er musste meine Überraschung gespürt haben, denn er grinste über meinen verwirrten Gesichtsausdruck.

„Nicht was du erwartet hattest?“

Ich antwortete nicht, ich konnte meiner Stimme immer noch nicht wieder trauen.

Er merkte, dass ich noch nicht bereit war, zu reden, daher half er mir aus dem Auto, legte mir eine Hand vorsichtig auf den Rücken und führte mich durch die Eingangstür. Ich ließ es geschehen.

Seine Nähe gab mir Sicherheit, ein Gefühl, dass ich nie erwartet hatte. Aiden machte nicht den Eindruck, als wollte er mich kontrollieren, es schien, als wollte er mich trösten.

***

Das Einzige, was die bleierne Stille zwischen uns unterbrach, während wir uns gegenübersaßen, ohne uns in die Augen zu sehen, war das Geräusch, das der Kaffee beim Kochen machte.

Natürlich wussten wir nicht, worüber wir reden sollten. Was sollte ich zu einem Mann sagen, den ich gerade dabei beobachtet hatte, wie er einen anderen fast auseinandergerissen hatte?

Was sollte er zu einer Frau sagen, die gerade fast vergewaltigt worden wäre? Würden Worte es besser machen können?

Nein, aber seine Anwesenheit war beruhigend.

Schließlich brach Aiden das Schweigen und ich wünschte, er hätte es nicht getan.

„Warum warst du mit diesem Mann im Club?“

„Was genau fragst du mich da?“ Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde.

„Du hättest nie mit einem anderen Mann allein sein dürfen während der Hitze. Es ist verdammt noch mal Paarungszeit. Wie konntest du dich in diese Situation bringen?“, antwortete er.

Ich stand abrupt auf. „Meinst du das ernst? Willst du etwa behaupten, das, was passiert ist, sei meine Schuld?“

„Keif mich nicht an. Das habe ich nicht gesagt.“

„Wie hast du mich überhaupt gefunden? Bist du mir gefolgt?“

„Es ist meine Verantwortung, immer zu wissen, wo du bist, Sienna. Als markierte Frau solltest du nicht –“

„Und wem habe ich das zu verdanken?“, fuhr ich ihn an. „Du hast mich doch markiert! Gegen meinen Willen! Du hast mich in diese Situation gebracht, Aiden! Du hast mir die Wahl genommen und hast mich zum Spielzeug für deine selbstsüchtigen Bedürfnisse gemacht!“

„Verstehst du nicht, wenn der Rausch dich einmal gepackt hat und du markiert bist, wird die Hitze nicht weggehen, bevor du mit demjenigen Sex hast, der dich markiert hat?“

„Das weiß ich!“, blaffte ich ihn zornig an. „Daher wollte ich ja auch nie markiert werden!“

„Du wolltest mich, als du ins Rudelhaus gestürmt bist. Leugne das nicht“, konterte er.

Er flirtete nicht. Das wagte er nicht, nachdem, was heute im Club passiert war. Aber ich geriet trotzdem ins Straucheln, unfähig die Vergangenheit und die Gegenwart auseinanderzuhalten.

„Du hast nicht die leiseste Ahnung, was ich will! Bleib mir verdammt noch mal vom Leib!“

Er kam auf mich zu, nicht aggressiv, aber ich fühlte mich trotzdem in die Ecke gedrängt, fühlte mich noch einmal an die Wand gepresst.

„Bitte, du bist zu nah, du bist –“ Ich schrie auf. Meine Augen wurden feucht und ich sah weg, beschämt von meiner Schwäche.

Aiden hielt inne und schaute überrascht. Er nahm mein Kinn in die Hand und drehte mein Gesicht zu sich. Er wollte mir nicht wehtun oder mich ficken. Er kam näher, um mich zu trösten.

„Sienna“, sagte er. „Ich werde nichts gegen deinen Willen tun. Weder jetzt noch sonst irgendwann. Alles was ich möchte, ist, dich zu beschützen.“

Er zog mich in seine Arme und ich gab mich der Umarmung hin. „Du hättest mich nicht markieren dürfen“, sagte ich an seine Brust gelehnt.

Er seufzte und zog mich runter auf seinen Schoß, nun war ich ihm noch näher. „Da ist etwas zwischen uns. Wir können das nicht leugnen. Ich habe es gefühlt, als ich dich markiert habe, aber ich habe es schon gefühlt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, am Flussufer.“

„Du erinnerst dich daran?“, fragte ich ein wenig ungläubig.

„Natürlich erinnere ich mich“, erwiderte er sanft und nahm mich fester in den Arm. „Ich habe deine Kraft schon damals gespürt. Dein Duft hat eine solche Stärke und Sinnlichkeit ausgestrahlt, dem konnte ich nicht widerstehen.“

Ich entzog mich seiner Umarmung ein wenig. „Heute Nacht habe ich keine Stärke ausgestrahlt. Ich war schwach.“

„Hör auf damit. Was ich vorhin gesagt habe, ... das stimmt nicht. Ich muss dir etwas sagen. Dein Geruch hat mich in dem Augenblick, als du auf der Dinnerparty erschienen bist, überwältigt. Das passiert in menschlicher Form nicht, du hast mich aus der Fassung gebracht. Die Hitze hat mich überkommen und ich musste dir einfach folgen, um mehr über dich zu erfahren, um in deiner Nähe zu sein. Noch nie zuvor in meinem Leben hat mich eine solche Macht so ungezügelt erfasst. Das ist deine Stärke, die Macht, die du über mich hast. Deshalb habe ich dich markiert.“

Ich stand von seinem Schoß auf und sah ihn an, als ob ich ihn zum ersten Mal sehen würde. Was sagte er da?

Wir waren beide nicht in Hitze, aber er sah mir eindeutig mit Verlangen in die Augen. Nur eine andere Art von Verlangen, dem Verlangen, mir nah zu sein.

„Warum erzählst du mir das alles?“

„Weil ich glaube, dass du meine Seelenverwandte sein könntest.“

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