
Carson war bis auf die Knochen erschöpft. Seit Tagen versuchte er vergeblich, sich zu befreien. Er wusste, dass Abby noch größere Qualen durchmachte als er selbst.
Nie hatte er für Abby wirklich Liebe empfunden, selbst als sie erfuhren, dass sie Gefährten waren. Doch um Rudelführer zu werden, musste er mit ihr zusammen sein.
Mit Taylor hingegen fühlte er sich wie elektrisiert und überglücklich. Diese Gefühle konnte er nicht unterdrücken, obwohl er wusste, dass es nicht richtig war.
Seine Familie und das Rudel erwarteten, dass er Reue für Abbys Verletzung zeigte. Er bedauerte es zwar, liebte aber Taylor und ihr gemeinsames Baby.
Er sehnte sich danach, bei Taylor und ihrem Kind zu sein, auch wenn er mit jemand anderem verbunden war.
Sein Vater war nicht zurückgekehrt, aber seine Mutter besuchte ihn häufig. Heute erlaubte sie ihm, Taylor per Videoanruf zu sehen. Es erfüllte ihn mit Freude, ihren noch flachen Bauch zu betrachten, der bald mit ihrem Baby wachsen würde.
Taylor zu sehen, hob seine Stimmung, aber nicht genug. Durch die Rudelverbindung spürte er immer noch Abbys Schmerzen. Ihr Tod würde sich anfühlen, als würde sie ihn mit ins Grab reißen.
Erschöpft lehnte er den Kopf an die Zellenwand. „Mama … kümmert sich jemand um Abby?“
„Ja, der Rudeldoktor gibt ihr Medikamente. Die Kräuter haben nicht angeschlagen.“
„Wie lange wird sie noch leiden müssen?“
„Wegen der Hitze? Noch ein paar Tage. Für alles andere? Den Rest ihres Lebens.“
Seine Mutter brach in Tränen aus. „Warum hast du uns nichts gesagt?“
Seine Mutter sah fassungslos aus. „Beim Mond! So etwas habe ich noch nie gehört. Gefährten sollen nur füreinander Augen haben.“
„Ihr müsst einander ablehnen. Wir lassen sie dich zuerst ablehnen, damit du den Löwenanteil der Schmerzen spürst.“
Er nickte. „Gibt es noch etwas, das ich tun kann?“
„Ich weiß nicht. Nimm deine Strafe an? Dein Vater meint es todernst damit, dich von deinem ungeborenen Baby und Taylor fernzuhalten.“
Wut wallte in ihm auf und er zerrte an den Handschellen, die ihn an die Wand fesselten, während seine innere Alpha-Kraft anschwoll.
Seine Mutter schüttelte den Kopf und sah so niedergeschlagen aus, dass er am liebsten mitgeweint hätte.
Er würde sich nie verzeihen, alle verletzt zu haben. Aber er würde es sich auch nie verzeihen, wenn er nicht seinem Herzen folgte und mit Taylor zusammen wäre. Es schien keinen guten Ausweg aus dieser Zwickmühle zu geben.
Als Carson seine Mutter gehen sah, roch er Abbys Hitze, und sein Wolf versuchte durchzubrechen, um seine Gefährtin zu beanspruchen.
Abby wäre eine gute Partnerin und Gefährtin gewesen, die perfekte Luna für seinen Alpha. Wenn er sich mit Taylor nie so glücklich gefühlt hätte, wäre alles in Butter gewesen.
Jetzt würden beide die Suppe auslöffeln müssen.
Edward saß neben seiner Gefährtin und wartete geduldig auf das Eintreffen seiner engsten Krieger. Er hatte Abigails Eltern zu einem vertraulichen Gespräch gebeten.
Das Erste, was er nach dem Besuch in der Zelle seines Sohnes vor drei Tagen tat, war, dem Rudel anzuordnen, zu Hause zu bleiben, während er eine Lösung für Carsons Problem suchte.
Abigails Hitze war nun vorüber und er hatte die Anordnung gerade aufgehoben.
Sie durfte ihre Zelle verlassen, litt aber noch immer unter heftigen Schmerzen. Ihr Wolf musste in Schach gehalten werden, damit sie Taylor und das ungeborene Kind nicht verletzte.
Carson saß noch im Gefängnis. Sein Wolf war kurz davor auszubrechen. Er akzeptierte seine Strafe nicht und hielt sich nicht von Taylor fern. Er versuchte weiterhin, sich zu befreien, koste es, was es wolle.
Bald müsste Edward mit dem Rudel über die Vorfälle sprechen, aber zuvor gab es noch einiges zu regeln, bevor er eine große Rudelversammlung einberief.
Vorerst hatte er allen befohlen, den Kriegern Michael und Fiona mit Respekt zu begegnen.
Und ganz besonders ihrer Tochter.
Alle kannten und mochten Abby. Sie sollte ihre zukünftige Luna werden. Das Rudel wollte sie nicht verstoßen; sie wollten Carson verstoßen. Er hatte seiner Gefährtin Leid zugefügt und sein Alpha-Training nicht ernst genommen.
Dem Rudel gefiel auch Taylor nicht. Sie war mit Carson zusammen gewesen, obwohl sie wusste, dass er gebunden und zu markieren war.
Als Michael und Fiona eintraten, nickten Edward und Hazel ihnen leicht zu.
„Bitte, nehmt Platz“, sagte Edward, erhob sich und deutete auf die Stühle. „Ich habe Neuigkeiten.“
Er wartete, bis alle saßen und schenkte ein Getränk ein. „Ich bin zutiefst betrübt. Als Vater, als Alpha … als Gefährte und Freund.“
„Wir sind auch sehr betrübt“, erwiderte Michael. „Ich bin wütend, Edward. Nicht wegen ihres Titels. Es geht um die Qualen, die sie durchmacht. Es geht um das Leben, das sie jetzt führen muss, wegen deines Sohnes und seiner … was auch immer sie ist.“
„Ich verstehe, und ich arbeite an einer angemessenen Bestrafung für ihn. Er hat nichts davon ernst genommen. Weder seine Verbindung, noch seine Gefährtin, noch seine Pflichten als zukünftiger Alpha.
„Er wird bestraft werden, und es wird nicht angenehm sein. Er mag Alpha-Blut haben, aber er hat sich den Titel nicht verdient.“
Michael neigte den Kopf, aber seine Stimme zitterte, als er sagte: „Ich kann ihm nicht dienen.“
Edward seufzte. „Ich bitte euch, jetzt keine voreiligen Entscheidungen zu treffen, während wir alle aufgebracht sind.“
„Ja, Alpha.“
Die Frauen blieben still, aber Edward bemerkte, wie aufmerksam sie ihren Männern beim Sprechen zuhörten. Sie alle waren aus verschiedenen Gründen sehr aufgewühlt.
„Ich habe Alphas im ganzen Land kontaktiert und sie gebeten, in ihren alten Aufzeichnungen nach allem zu suchen, was damit zu tun hat“, sagte er. „Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“
„Danke“, sagte Michael steif.
„Ich habe mich ausführlich mit einem Alpha im Norden besprochen.“
Michaels Kopf schnellte hoch und er stieß ein leises Knurren aus, aber als Edward die Hand hob, verstummte er.
„Alpha Roman vom Rudel Luko.“
Michaels Augen blitzten auf. „Er ist für seine Härte bekannt. Ich werde nicht zulassen, dass mein Kind in noch größere Gefahr gerät.“
Edward nahm sich einen Moment Zeit, jeden von ihnen anzusehen, um sicherzugehen, dass sie alle verstanden. „Er hat vor fünf Jahren bei einem Angriff wilder Wölfe seine Gefährtin und sein ungeborenes Kind verloren.“
Seine Worte wurden von betroffenem Schweigen gefolgt.
Nach einer Weile fuhr Edward fort. „Er hat diesen Ruf, aber die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Er ist ein gerechter Alpha und beschützt sein Rudel mit allen Mitteln.
„Sein Rudel ist nicht das, was wir uns unter einem gewöhnlichen Rudel vorstellen würden. Die meisten Mitglieder haben auf irgendeine Weise jemanden verloren.“
„Was meinst du damit?“, fragte Michael. „Niemand scheint viel über das Rudel Luko zu wissen.“
„Sein Rudel hat Familien, wie andere Rudel auch, aber auch Menschen, die viel umherziehen und solche, die Gefährten oder Kinder verloren haben. Das Rudel Luko betrachtet das Leben etwas anders als wir anderen.
„Einen Alpha zu haben, der jemand Wichtiges verloren hat, hat es ihnen ermöglicht zu verstehen, dass Verlust zum Leben gehört, dass Gefährten, die einander verloren haben, nicht verstoßen, sondern akzeptiert werden sollten.“
Edward sah Michael an. Er wusste, dass sein Krieger allen Grund hatte, über die Schande seines Kindes erzürnt zu sein, aber als Alpha wusste er auch, dass man ihm in dieser Sache gehorchen würde, wie in allem anderen.
Trotzdem wollte er, dass Michael seine Entscheidung verstand. Nicht nur akzeptierte, sondern ihr vertraute.
„Abby und Carson werden einander ablehnen“, sagte Edward, „und danach wird euer Kind zum Rudel Luko gehen.“
Abby spürte, wie eine intensive Hitze durch ihren Körper schoss, als stünde ihr Blut in Flammen. Am liebsten wäre sie zu Boden gesunken, doch sie hielt sich aufrecht. Sie wollte für ihren einstigen Gefährten nichts mehr empfinden. Nur noch Abscheu sollte übrig bleiben.
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, brach Carson vor ihr zusammen. Er schien Höllenqualen zu leiden. Mit zitternden Händen streckte er sich nach ihr aus, als flehe er um Gnade.
Sie konnte seinen Anblick nicht ertragen und wandte sich ab. Stattdessen suchte sie den Blick ihrer Eltern. Sie wirkten zufrieden, und Abby war stolz darauf, Carson in die Knie gezwungen zu haben – ausgerechnet ihn, den zukünftigen Alpha, der nun so schwach wirkte.
„Carson. Steh auf“, befahl Edward mit der Stimme eines Alphas.
Ihr Gefährte gehorchte. Mühsam erhob er sich, und sein Vater reichte ihm ein verziertes Messer.
Abby hatte sich entschieden, die Markierung mit einem Messer entfernen zu lassen. Nie wieder sollte Carsons Mund ihre Haut berühren.
Als sie einen leichten Schmerz an ihrer Schulter spürte, gefolgt von einer Wärme, wollte sie hinabblicken. Doch sie zwang sich, den Blick geradeaus zu richten.
Auf den Jungen, den sie einst von ganzem Herzen geliebt hatte.