
Josie schwebte am nächsten Morgen förmlich auf Wolken. Flink machte sie sich fertig und betrachtete ihr langes braunes Lockenhaar im Spiegel. Verträumt spielte sie damit herum. Hoffentlich sah es gut aus.
„Josie!“
Sie drehte sich um, als ihre Mutter nach ihr rief. Mit einem letzten Blick in den Spiegel holte sie tief Luft und ging nach unten.
Gideon war schon da und plauderte entspannt mit ihrer Mutter über das schöne Wetter. Es sei ungewöhnlich mild für die Jahreszeit, meinten sie. Als er Josie erblickte, verstummte er.
„Fertig?“, fragte er mit einem Lächeln.
„Klar!“ Sie strahlte übers ganze Gesicht und schnappte sich ihre Handtasche. Zum Abschied gab sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und folgte Gideon nach draußen.
„Also“, sagte sie, als sie zum Rudelhaus schlenderten, „was möchtest du sehen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Alles.“
„Tja ...“, erwiderte sie und drehte sich mit ausgebreiteten Armen, „das ist alles.“
Er lachte herzlich. „Danke für die Führung.“
„Gern geschehen.“ Sie zwinkerte.
Sie führte ihn am Waldrand entlang, der das Hauptrudel-Gebiet umgab, und ging gemächlich im Schatten der Bäume.
„Bist du hier aufgewachsen?“, fragte er und ging neben ihr her.
„Ja, von klein auf.“ Sie lächelte. „Du bist Julias Cousin, also musst du doch in der Nähe groß geworden sein, oder?“
„Nein“, sagte er mit einem leichten Schmunzeln. „Ich komme von einem Rudel an der Westküste. Bin zwei Tage hierher gefahren.“
„Wow.“ Josie sah mit großen Augen zu ihm auf. „Du nimmst ganz schön was auf dich, was?“
„Na ja, für den richtigen Gefährten lohnt sich das doch, oder?“, meinte er und steckte die Hände in die Hosentaschen.
„Da hast du wohl recht.“ Sie nickte. „Mein Bruder kommt morgen von einem Besuch bei einem anderen Rudel zurück. Er hat versprochen, mich auf eine kleine Reise mitzunehmen, um ein paar andere Rudel kennenzulernen.“
„Glaubst du, dein Gefährte könnte dort sein?“, fragte er.
„Ich hoffe es“, antwortete sie lächelnd.
Er blieb stehen und sah ihr in die Augen. „Ich wünsche dir, dass du deinen Gefährten findest“, sagte er aufrichtig.
Josie blickte zu ihm auf und sah die Ehrlichkeit in seinem Blick. „Danke. Ich hoffe, du findest deinen auch.“
Sie lächelte sanft, bevor ihr Blick sich abwandte. Es war zu viel, ihn zu lange anzusehen.
Die Vorstellung, sich zu sehr in ihn zu verlieben, während ihr Gefährte irgendwo da draußen wartete, hielt sie zurück.
Mit einem letzten Blick auf ihn wandte sie sich ab und setzte ihren Weg fort, plauderte ein wenig, während sie am Rand des Hauptrudel-Gebiets entlangging.
Gerade als sie sich dem Rudelhaus wieder näherten, wurden sie von einer Autohupe hinter ihnen aufgeschreckt. Beide schauten genervt auf den Wagen, der an ihnen vorbeifuhr und vor dem Rudelhaus anhielt.
Josies Miene hellte sich auf, als ein großer, rothaariger Mann mit Sommersprossen und einem schelmischen Grinsen ausstieg und über seinen Streich lachte. Sie rannte auf ihn zu und umarmte ihren Bruder, bevor sie zurücktrat und ihm spielerisch in den Bauch boxte.
„Du Spinner!“
„Aua“, stöhnte er übertrieben. „Sei lieber nett zu mir, sonst nehme ich dich nicht mit auf unsere Reise.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch mit dir los will.“
„Lügnerin“, sagte er augenzwinkernd, bevor er sich dem Mann zuwandte, der auf sie zukam.
„Oh“, sagte Josie verlegen. „Eddie, das ist mein Freund Gideon.“
„Freut mich.“ Gideon lächelte und streckte Eddie die Hand entgegen. „Josie hat mir alles gezeigt.“
„Ach“, sagte ihr Bruder, schüttelte Gideons Hand und warf Josie einen seltsamen Blick zu. „Ist er ...“
„Er ist eigentlich Julias Cousin“, unterbrach sie. „Nur zu Besuch.“
„Ach so!“ Er seufzte erleichtert. „Noch eine von Julias Verkupplungsaktionen?“
Er grinste über die Verlegenheit seiner Schwester.
„Genau.“ Gideon zuckte mit den Schultern und schien sich nicht daran zu stören. „Was hat dich von hier weggeführt?“
„Rudel-Angelegenheiten“, sagte Eddie knapp, da er nicht mehr mit jemandem teilen wollte, der nicht zu ihrem Rudel gehörte.
„Verstehe.“
„Eddie wird der nächste Beta, wenn Lucas Alpha wird“, erzählte Josie stolz.
„Oh, ich wusste gar nicht, dass eure Familie –“
„Sind wir nicht“, sagte Eddie kopfschüttelnd. „Unser jetziger Beta ist super, hat aber keine Kinder. Also kann Lucas seinen eigenen Beta wählen, ohne dass es Streit gibt. Der Verrückte hat mich ausgesucht.“
Josie lachte über die Worte ihres Bruders und hustete, als er ihr einen komischen Blick zuwarf.
„Ach so.“ Gideon nickte. „Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke.“ Eddie lächelte und nickte in Richtung Rudelhaus. „Ich sollte reingehen. Muss mit dem Alpha sprechen.“
Josie lächelte, als er ihre Schultern drückte.
„Du und dein Bruder scheint euch nahezustehen“, sagte Gideon, als er weg war.
„Ja, das stimmt.“ Sie lächelte. Sie hatte ihren Bruder vermisst.
„Na ja“, sagte Gideon und schaute auf die schicke Uhr an seinem Handgelenk, „ich sollte dich gehen lassen. War toll, alles zu sehen. Danke, Josie.“
„Gern geschehen“, sagte sie lächelnd.
„Ich komme bestimmt irgendwann wieder zu Besuch, also ... bis dann?“
„Vielleicht hast du beim nächsten Mal, wenn ich dich sehe, einen Gefährten“, sagte sie aufmunternd.
„Vielleicht.“ Er lächelte.
„Hey!“, rief Josie, als sie ein paar Tage später Gideon über die Wiese auf sie zukommen sah. „Was machst du denn hier draußen?“
„Gerade fertig mit dem Laufen“, sagte er außer Atem. „Ich dachte, du wärst inzwischen weg“, fügte er lächelnd hinzu und holte Luft. Sein muskulöser Oberkörper glänzte im Morgenlicht vor Schweiß.
„Er ist gerade erst zurückgekommen, also dachte ich, ich gönne ihm ein paar Tage mit Hanna, bevor ich ihn wieder entführe.“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Nett von dir“, sagte er und wischte sich mit einem Handtuch übers Gesicht.
„Du trainierst jetzt also mit unserem Rudel?“, fragte sie, als sie auf eine Bank zugingen.
„Muss ja irgendwie in Form bleiben.“ Er zwinkerte.
„Bist du –“ Sie verstummte, als sie über einen Stein im Gras stolperte.
Überrascht spürte sie, wie Gideon sie auffing. Seine starken Hände umfassten fest ihre Taille und bewahrten sie vor dem Sturz. Sie hielt sich an seinen Armen fest und spürte, wie sich die harten Muskeln unter ihrer Berührung bewegten.
„Danke“, sagte sie leise und blickte in seine braunen Augen.
„Kein Problem“, erwiderte er. Er richtete sich auf und ließ sie los. „Was wolltest du vorhin sagen?“
„Ich ...“, stotterte sie, verwirrt von der Hitze zwischen ihnen. „Ich wollte fragen, wie es dir hier gefällt.“
„Es gefällt mir sehr gut.“ Er lächelte. „Besonders nachdem ich dich kennengelernt habe.“
Josie errötete bei seinen Worten und schaute verlegen zu Boden. „Ach, hör auf.“
„Ist aber so.“ Er zwinkerte ihr zu. Sein Lächeln war warm.
Sie konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Sie beschloss, dass es Zeit war zu gehen.
„Ich sollte besser los“, sagte sie. „Ich war gerade auf dem Weg nach Hause.“
„Okay. Tschüss, Josie.“
„Bis dann“, sagte sie leise, bevor sie sich umdrehte.
„Josie!“
Sie hatte es fast nach Hause geschafft, als sie ihn ihren Namen rufen hörte. Sie drehte sich um und sah ihn hinter ihr herlaufen, schwer atmend vom Rennen.
„Gideon?“, fragte sie überrascht.
Er lächelte, nahm ihre Hand und führte sie um die Hausecke.
„Was zum – was machst du?“, fragte sie, als er sie in die Bäume zog.
Er blieb stehen und drehte sich um, nahm nun beide ihrer Hände in seine.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich wiedersehen werde, also wollte ich mich richtig verabschieden. Ich bin wirklich froh, dass ich dich kennengelernt habe.“
„Ähm ... danke“, antwortete sie, nicht ganz sicher, was gerade passierte. Bevor sie es sich versah, beugte er sich hinunter und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange.
„Gideon, ich –„, stotterte sie, überrumpelt von seiner Geste.
„Tschüss.“ Er lächelte und, genauso schnell wie er sie geküsst hatte, ließ er sie allein zwischen den Bäumen stehen.