
Die Nacht war finster, und der Mond versteckte sich hinter Wolken. Das einzige Licht kam von vier Fackeln, die Roger umgaben. Dichtes Gehölz umschloss alles, sodass niemand hinein- oder hinaussehen konnte.
„Wir haben uns heute Nacht hier versammelt ...“
Roger hörte den Stimmen nicht zu. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Oft zählte er die kleinen Steinchen, um sich von seiner misslichen Lage abzulenken. Die grauen Farben halfen ihm zu vergessen, doch der Anblick seines eigenen Blutes erinnerte ihn daran, was hier vor sich ging.
Die Ketten klirrten, als er versuchte, es sich ein wenig bequemer zu machen. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Spitze Steine bohrten sich in seine Beine, während er dasaß. Der Schmerz machte ihn wütend. Das erste Mal, dass er jemandem helfen wollte, und das war das Ergebnis.
„Aaahhh“, schrie Roger auf, als sein Rücken brannte. Die Peitsche hatte seine Haut aufgerissen. Langsam blickte er zu den Leuten auf, die ihn gefesselt hatten.
„Hörst du zu, du Ausgeburt der Hölle?“, fragte der Mann gehässig.
Roger musterte ihn. Der Anführer trug einen dunkelblauen Mantel, der seine Autorität zeigte, aber auch seinen Hass auf Roger. Der Mann war klein und dick, mit braunem, fettigem Haar, das zurückgebunden war.
Er sah aus wie ein aufgeblasener Frosch, aber das wäre eine Beleidigung für Frösche.
Rogers Muskeln schmerzten, als er sich aufrecht hinsetzte. Diese Leute waren Dummköpfe, und er wollte keine Schwäche zeigen. Er ließ seinen Blick kurz über alle schweifen, bevor er wieder den Anführer fixierte.
„Du bist des Bösen angeklagt und wirst hingerichtet. Was hast du dazu zu sagen, du verdammte Kreatur?“
Die Menge johlte und beschimpfte ihn. Roger schloss die Augen und spürte Wut in sich aufsteigen. Was sie sagten, stimmte, aber er wollte ihnen nicht sein wahres Gesicht zeigen.
Langsam wurde es still und er öffnete die Augen. Sein Mund schmeckte metallisch. Er spuckte aus, bevor er antwortete.
„Ich stehe weder mit dem Teufel noch mit Satan im Bunde. Ich bin nur ein Mann, der versucht hat, Eure Tochter zu retten“, betonte er das letzte Wort. „Was geschehen ist, muss ihre Fantasie beflügelt haben.“
Der Mund des Mannes klappte auf angesichts der Beleidigung seiner Familie. Er nickte dem Wächter zu. Roger hatte ein paar Sekunden, um sich auf die Peitsche vorzubereiten. Er kniff die Augen zusammen und dachte an angenehmere Dinge. Er hörte das Pfeifen der Peitsche deutlich und biss die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben.
„Hüte deine Zunge, du Teufelsspuk.“ Der Mann grinste, während er von oben zusah. Die Menge klatschte zustimmend.
Ein kühler Windhauch streifte seinen wunden Rücken und verschaffte ihm eine kurze Atempause. Er hielt den Blick auf die Augen des Mannes gerichtet und sah dessen Genugtuung. Roger holte tief Luft, bevor er sich wieder aufrichtete. Seine Knie schmerzten, als sie den Boden berührten.
„Nein, Herr. Ich erzähle nur meine Version der Geschichte“, erklärte er.
„Pah.“ Der Mann schnaubte verächtlich. „Warum sollten wir dir glauben? Deine Worte sind die des Teufels.“
Roger schüttelte den Kopf über die Worte des Mannes. Diese Leute waren ignorant und wollten nicht zuhören. Jahrelang hatte er versucht, friedlich mit ihnen und anderen zu leben, aber sie bewiesen immer wieder seine Ansichten. Menschen würden sich stets vor dem Unbekannten fürchten.
„Glaubt, was Ihr wollt. Meine Seele ist rein“, sagte er stolz.
Der Mann klatschte in die Hände und wandte sich an die anderen hinter ihm. „Seht ihr, Lügen.“ Er breitete die Arme aus. „Dieser Dämon erzählt euch guten Menschen Lügen. Dämonen haben keine Seele.“
„Welche Beweise habt Ihr?“, unterbrach Roger ihn.
Der Mann drehte sich blitzschnell um und starrte ihn wütend an. Er hasste Roger wirklich. „Wie wagst du es, mich zu unterbrechen?“
„Ich stelle nur eine einfache Frage.“ Ein leichtes Lächeln umspielte sein blutiges Gesicht. „Vielleicht ist sie zu schwer für Euch zu verstehen.“
„Du respektloser Narr ...“
Roger konnte den Rest nicht hören, da die Peitsche wieder und wieder auf ihn niedersauste. Alles wurde schwarz. Er spürte nichts mehr, als er zu Boden fiel und nur noch schwer atmete.
Das Gejohle der Menge dröhnte in seinen Ohren und machte ihn rasend.
Sein Blut kochte und seine Zähne wurden länger. Roger kämpfte hart darum, seine andere Seite zu kontrollieren, aber je mehr er ihrem Wahnsinn zuhörte, desto stärker kam sie zum Vorschein.
„AUFHÖREN ...“, Roger sprang schneller vom Boden auf, als sie es sehen konnten.
„Er ... er. Es stimmt.“ Die Leute keuchten auf, als er blutüberströmt mit pechschwarzen Augen dastand.
Roger hob die Arme und warf den Kopf in den Nacken. „Ist es das, was ihr wolltet?“, brüllte er sie an. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick seiner Augen. Einige fielen auf die Knie und beteten.
„Teufel“, schrie der Anführer, doch er wich zurück und stieß gegen die Leute hinter sich, sodass sie zu Boden fielen. Roger lächelte ihn an, während er sich umsah und schließlich wieder auf den Mann fixierte.
„Nein, nicht der Teufel. Nur ein Mann, der versucht zu leben, nachdem ihm Schlimmes widerfahren ist.“ Er zerrte an den Ketten, doch er war geschwächt, da er seit über einem Tag nichts gegessen hatte. Die Ketten klirrten nur, als er daran zog.
Er schloss die Augen und atmete tief durch, versuchte seinen Körper dazu zu bringen, doch er wurde unterbrochen.
„Verbrennt ihn.“ Der Mann zeigte mit dem Finger auf ihn und lachte.
Roger wusste, dass ihm die Zeit davonlief. Er zog so fest er konnte. Der Pfahl im Boden bewegte sich leicht und er zog noch stärker. Plötzlich spürte er intensive Hitze an seiner Seite. Einer der Soldaten hatte eine Fackel gegriffen, um ihn zu verbrennen.
Roger trat nach dem Soldaten und schleuderte ihn zurück. Die Zuschauer begriffen, dass sie in Gefahr waren. Sie gerieten in Panik und versuchten zu fliehen, stießen gegeneinander und schrien.
Vier weitere Soldaten stürmten auf ihn zu, jeder mit einer Fackel bewaffnet.
Roger überlegte, wie er sich wehren konnte, doch es war zu spät, als weitere Hitze seinen ohnehin schon verletzten Rücken versengte. Er wirbelte herum, um sich der Quelle zuzuwenden, wurde aber gestoppt, als ein anderer Soldat eine Fackel auf seinen Arm warf. Der Schmerz ließ ihn auf die Knie sinken.
Sie nutzten die Gelegenheit, ihn zu umzingeln und richteten die Flammen auf ihn. Die Hitze der Fackeln ließ ihn schwitzen. Als er sich umsah, erkannte er, dass es keinen Ausweg gab.
„Kommt schon“, brüllte er sie an.
Die roten Flammen waren alles, was er sehen konnte. Die Hitze verbrannte seine Haut, als sie näher kamen.
„NEEEIIIN ...“
Der Raum war dunkel, da die Feuer verschwunden waren. Roger sprang kampfbereit aus dem Bett. Er spürte sein Herz wild in der Brust hämmern, während er sich umsah, doch nach wenigen Sekunden erwachte er aus dem Albtraum.
Die Laken waren schweißgetränkt. Als er sich über die Stirn wischte, wurde seine Hand nass.
„Verdammt“, fluchte Roger leise.
Seit Jahren plagten ihn Albträume von seinem früheren Leben. Diese Menschen waren längst tot, doch sie jagten ihm immer noch Angst ein.
Die kühle Brise vom offenen Fenster tat seiner erhitzten Haut gut, als er die Decke wegwarf und aufstand. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit des Zimmers, während er ins Bad ging. Sein Aussehen hatte sich seit der Vergangenheit ebenfalls verändert, und mittlerweile mochte er es selten, sich selbst anzusehen, also ließ er das Badezimmerlicht aus.
Das kalte Wasser fühlte sich herrlich auf seiner Haut an, als er sich das Gesicht wusch. Ohne innezuhalten griff er nach einem Handtuch, um sich abzutrocknen, wobei er die ganze Zeit die Augen geschlossen hielt.
Jede Nacht die gleiche Geschichte und jeden Morgen die gleiche Routine.
Roger faltete das benutzte Handtuch ordentlich zusammen und hängte es für den nächsten Tag zurück an den Haken. In seinem Kleiderschrank hingen nur Sachen in einer Farbe. Weiß.
„Ist das jetzt mein Ich?“, fragte er sich. Seit jener schicksalhaften Nacht vor Jahren lastete ein Fluch auf ihm, der sein Aussehen verändert hatte.
Keine Hörner oder Körperveränderungen. Nein, er war blass, nicht nur seine Haut, sondern auch Haare, Nägel und alles andere. Der einzige Unterschied zeigte sich, wenn er die Kontrolle über seinen Blutdurst verlor - dann wurden seine Augen schwarz und offenbarten sein wahres Wesen.
Roger griff nach dem erstbesten Outfit, zog sich schnell an und ging in die Küche. Das große Haus, das er sein Zuhause nannte, war riesig. Es war voller wertvoller Besitztümer, aber ohne jegliche Wärme.
In den weitläufigen Fluren waren kaum Bedienstete zu sehen. Man bemerkte sie kaum. Seit dem Fluch hatte er sich von allen ferngehalten und das Haus nur verlassen, wenn er essen oder einem Freund helfen musste.
Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, als er an Vanessa dachte. Ihr letzter Auftrag hatte sie noch enger zusammengeschweißt. Sie war seine engste und einzige Freundin, doch nun war es seltsam.
Sie war jetzt eine Wölfin und er ein Vampir, der Feind ihrer Art. Sicher, sie stand darüber, aber es war auch etwas, das sie nicht ändern konnte. Es steckte tief in ihrer DNA.
„Sir“, flüsterte eine zitternde Stimme hinter ihm.
Roger schüttelte den Kopf und riss sich aus seinen Gedanken. Er drehte sich langsam um, da er bereits wusste, dass es sein langjähriger Diener war.
„Ja, Michael?“
Michael stand unsicher in der Tür. „Entschuldigung, Sir, Sie schienen in Gedanken versunken.“
„Nein, ich habe nur über einige Dinge nachgedacht“, erwiderte Roger.
Er wandte Michael den Rücken zu, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Die meisten Vampire bevorzugten frisches Blut, auch er, doch in seiner jetzigen Situation war kaltes Blut zur Normalität geworden.
Nicht nur wegen seines auffälligen Aussehens, sondern auch wegen seines starken Blutdursts. Wenn er es frisch bekam, fiel es ihm schwer aufzuhören, und er tötete Unschuldige.
„Verdammt, wir haben nichts mehr.“ Roger knallte den Kühlschrank heftig zu, sodass er wackelte.
Michael wich einen Schritt zurück, als Roger so reagierte, doch Roger bemerkte es und beruhigte sich. Michael war sein Freund und er hasste es, ihm Angst einzujagen. „Tut mir leid.“ Er drehte sich schnell zu ihm um.
„Kein Problem.“ Er lächelte zittrig. „Soll ich in die Stadt fahren und mehr besorgen?“
„Nein, nein.“ Roger winkte ab. „Ich brauche frische Luft.“
„Wie Sie wünschen, Sir.“ Michael nickte und verließ den Raum.
Je weniger sie sprachen, desto besser für beide.
Roger sah seinem alten Freund nach und fühlte sich etwas beschämt. Zu Hause hatte er seine Gefühle sonst immer unter Kontrolle, doch seit der kurzen Reise mit Vanessa war er unruhig. Etwas Großes bahnte sich an, und tief in seinem Inneren wusste er, dass er mittendrin steckte.