
Die Chroniken von Regventus 1: Aldawen
Das Königreich Regventus steht am Abgrund des Untergangs, seine letzte Hoffnung ein Junge, der nie darum gebeten hat, auserwählt zu werden. Max trägt das seltene königliche Blutmagie in sich, doch zweifelt er daran, der Retter zu sein, den die Prophezeiung verlangt. Ansel, ein standhafter Krieger, der mit seinem Schutz beauftragt ist, sieht sich selbst mit innerer Zerrissenheit konfrontiert, als er auf Griffa trifft – eine begabte Zauberin mit einer Vergangenheit, die ebenso verstrickt ist wie das Schicksal des Königreichs.
Während sie Max auf seinem Weg zur Bestimmung begleiten, ziehen sich die Schatten enger zusammen, Bündnisse bröckeln und die Begierde verkompliziert alles. In einem Reich, in dem Magie die Herrscher krönt und Verrat ein freundliches Gesicht trägt, könnte die größte Gefahr nicht der Feind vor den Toren sein, sondern die Geheimnisse des Herzens.
Kapitel 1
GRIFFA
Es war kalt, viel zu kalt für den frühen Herbst. Griffa zog ihren Umhang fester um sich, während sie durch den dritten Bezirk der Stadt schlenderte und den Blick über die belebten Straßen schweifen ließ.
Die Läden schienen längst nicht mehr so zu florieren wie einst. In den Schaufenstern waren weniger Waren ausgestellt, und an vielen Gebäuden war die Farbe abgeblättert und verblichen.
Auch die Zahl der Bettler war gestiegen.
Früher, als ihr Vater sie als Kind nach Aurumist mitgenommen hatte, begegneten sie Bettlern normalerweise nur im vierten Bezirk.
Sie wusste selbst nicht genau, wonach sie Ausschau hielt. Sie war es leid, ständig von verschwundenen Magiern zu hören. In zu vielen Dörfern rund um Regventus wurden Menschen vermisst. Sogar in ihrer Heimat Abscon war eine Familie von einem Ausflug ins Tal nicht mehr zurückgekehrt.
Griffa spürte, dass etwas im Gange war, und sie war sich sicher, dass es mit den Mächtigen in Aurumist zu tun hatte.
Sie hatte versucht, den Ring zu warnen, in der Hoffnung, dass zumindest Hector ein offenes Ohr für sie haben würde. Doch man hatte sie brüsk abgewiesen und behauptet, Abscon sei noch sicher und das sei alles, was zähle.
Griffa stieß einen Seufzer aus. Der Ring war nahezu nutzlos. Seine Mitglieder saßen untätig herum und warteten darauf, dass irgendein prophezeiter König sie retten würde.
Sie hätte schon vor Stunden den Rückzug antreten sollen, als ihr klar geworden war, dass es nichts zu erfahren gab. Die wenigen Menschen, mit denen sie gesprochen hatte, wussten nichts und hatten auch nichts gehört.
Wer auch immer etwas wusste, würde sich im ersten Bezirk, im Palast, aufhalten. Ein Ort, den sie nur betreten konnte, falls sie ihr Leben aufs Spiel setzen wollte.
Griffa war mächtig und sie vertraute ihren Fähigkeiten, doch sie war keineswegs töricht.
Also machte sie sich auf den Weg zum zweiten Bezirk, um eine weitere alberne Veranstaltung zu sehen. Zwei Wachen standen am Tor. Als sie auf sie zukamen, blieb Griffa stehen und schenkte ihnen ein Lächeln.
„Was führt dich in den zweiten Bezirk?“, fragte einer der Wachmänner.
„Man sagt, der Palast werde zum Geburtstag des Lords erleuchtet. Vom zweiten Bezirk aus hat man die beste Sicht“, erwiderte Griffa mit unverändertem Gesichtsausdruck.
Sie strich sich eine dunkelrote Locke aus den Augen. „Außerdem heißt es, die besten Partys steigen im ersten Bezirk.“
Der Wachmann, der ihr am nächsten stand, grinste und nickte. „Du meinst wohl die langweiligsten Partys. Diese Bonzen sind viel zu verkrampft, um zu wissen, wie man richtig feiert.“
Griffa lachte. „Da hast du wahrscheinlich recht.“
Sie trat näher an ihn heran und legte sanft ihre Hand auf seinen Arm. „Du hast nicht zufällig Feierabend und Lust, mitzukommen, oder? Ich bin sicher, du könntest mir zeigen, wo man hier so richtig Soaß haben kann.“
„Oh?“ Sein Grinsen wurde breiter, als er sich zu ihr beugte. „Und welche Art von Spaß schwebt dir so vor?“
„Hmmm …“ Griffa strich mit der Hand sacht über seinen Arm. „Mit jemandem wie dir? Sagen wir einfach, das wird eine Nacht, die du nicht so schnell vergessen wirst.“
Der Wachmann lachte.
Doch sein Kamerad trat näher und zog die Hand des Wachmanns von Griffa weg. „Sie sollten besser weitergehen, Fräulein. Henri steckt hier noch etliche Stunden fest. Vielleicht sogar die ganze Nacht, wenn ich es für nötig halte.“
„Schade“, bemerkte Griffa, während sie ihren Umhang zurechtrückte.
Er sah gar nicht schlecht aus: jung, groß, ein hübsches Gesicht. Wäre sie anders gestimmt gewesen, hätte sie ihn vielleicht auf einen Drink eingeladen.
Aber sie hatte erreicht, was sie wollte: Die Wachen traten beiseite und gewährten ihr Einlass in den zweiten Bezirk der Stadt.
Hier gab es weder Gedränge noch Bettler. Stattdessen reihten sich große Gebäude und weite Rasenflächen aneinander, die im Frühling und Sommer saftig grün waren. Jetzt allerdings waren sie verblasst und gelb.
Buntes Laub bedeckte den Boden, und halb entlaubte Bäume säumten die Wege.
Griffa steuerte die große Wiese in der Nähe der großen Bibliothek an. Sie füllte sich mit Menschen, die alle zum Palast hinaufblickten.
Sie blieb in der Nähe eines der größeren Bäume stehen und hob ihrerseits den Blick zum Palast von Aurumist.
Einst von einem magischen Herrscher erbaut, diente er nun dem Lord des Königreichs und dem Rat der Alten als Residenz.
Griffa wusste wenig über sie. Alles, was sie vom Ring und wenigen privaten Quellen erfahren hatte, war, dass der amtierende Lord jung war, kaum älter als sie selbst, und lediglich eine Marionette. Ein hübsches Gesicht fürs Volk.
Man munkelte, die wahren Herrscher des Königreichs seien die Vizekönige in seinem Rat.
Griffa blickte zum Palast hinauf und fragte sich, ob die Menschen dort drinnen wirklich so schrecklich waren, wie ihr Volk behauptete. Seufzend fragte sie sich, ob es naiv war, zu hoffen, dass dem nicht so sei.
Die Sonne begann unterzugehen und immer mehr Menschen strömten auf die Wiese. Griffa trat zurück, um sich gegen den Baum zu lehnen, als sie spürte, wie sich jemand leise von hinten näherte.
„Ich wusste, dass du es bist. Und ich bin froh, recht behalten zu haben“, sagte eine Stimme so dicht an ihrem Ohr, dass es kitzelte.
Sie musste lächeln. „Ich hatte gehofft, den ganzen Tag unerkannt zu bleiben, aber ich hätte wissen müssen, dass ein so großes Ereignis dich hierher locken würde. Suchst du dir wieder irgendein hübsches Mädchen aus der Stadt, das dir heute Nacht das Bett wärmt?“
„An den Mädchen von Aurumist habe ich kein Interesse, Griffa. Es gibt seit einiger Zeit nur eine Frau in meinen Gedanken.“
Griffa drehte sich um, um Talon Wendell anzusehen. Er sah genauso aus wie beim letzten Mal, als sie ihn vor Monaten gesehen hatte.
Vielleicht waren seine schwarzen Haare etwas länger und seine braunen Augen wirkten müder, als sie es in Erinnerung hatte. Kein Wunder, er trug nun mehr Verantwortung.
Doch sein Lächeln und seine Grübchen waren unverändert, und die Art, wie er sie ansah, wärmte Griffas Inneres, wie immer.
„Du bist ein schrecklicher Schmeichler, Talon.“
„Ich bin eigentlich ziemlich gut darin. Bist du wirklich ganz allein hier? Keiner deiner Freunde aus der Stadt in der Nähe? Was ist mit einem jungen Mann aus Abscon oder einem gewissen Beschützer?“
Griffas Magen krampfte sich zusammen. „Ich bin allein, Talon. Ich habe einige meiner Kontakte in der Stadt gesehen, aber sie dort zurückgelassen. Es gibt keine jungen Männer in Abscon, die mein Interesse wecken. Und Ansel habe ich seit Monaten nicht gesehen.“
„Wirklich?“, fragte Talon und hob eine Augenbraue. „Du warst also die ganze Zeit allein in Keene Manor?“
„Ich war kaum dort. Die meiste Zeit habe ich unterwegs oder im Wald verbracht. Und du?“
„Ich war natürlich mit der Verwaltung des Tales beschäftigt. Das lässt kaum Raum für anderes. Wenn ich gewusst hätte, dass du so einsam bist, hätte ich einen Moment oder zwei gefunden, um wegzukommen. Warum bist du nicht zu mir gekommen?“
Sie wandte den Blick ab. Sie war oft versucht gewesen. Talon hätte sie zumindest für eine Weile ihre Probleme vergessen lassen.
Aber es war zu gefährlich. Schon einmal hatte sie sich zu sehr für ihn geöffnet und es hatte ihr nur Schmerz bereitet. Außerdem war da auch noch Ansel und der Grund, warum er ihr aus dem Weg ging.
„Ich war ebenfalls beschäftigt, Talon. Ich habe meine eigenen Pflichten.“
„Oh, dann hast du deinen Platz eingenommen? Davon hätte ich doch gehört.“
„In Abscon hat sich seit dem Tod meines Vaters nichts verändert. Ich spreche von anderen Dingen.“
Talon lachte leise. „Du kannst ruhig die Wahrheit sagen und zugeben, dass du mich gemieden hast. Es schmerzt, aber die Wahrheit ist besser als eine Lüge.“
„Ich habe nicht nur dich gemieden. Die letzten Monate habe ich größtenteils allein verbracht. Ich habe keine Gesellschaft gesucht.“
„Willst du, dass ich dich allein lasse?“
Griffa sah zu ihm auf, sein Gesicht halb im Schatten, halb im Licht der untergehenden Sonne. Sein Lächeln war anders als früher – weicher, weniger überheblich.
„Ich habe nichts gegen deine Gesellschaft, nicht heute Abend.“
„Gut, denn ich glaube, das, worauf wir gewartet haben, fängt gleich an.“ Talon legte seine Hand auf ihre Taille und drehte sie herum, sodass sie zum Palast blickte.
Die Lichter blinkten erst unten auf, und jedes Fenster erleuchtetelangsam, immer höher und höher.
Griffa lehnte sich instinktiv an Talon, um besser sehen zu können, und er legte seinen Arm um ihre Taille. Sie seufzte unwillkürlich, als sie seine starke Brust und Wärme an ihrem Rücken spürte. Er war vertraut und sicher.
Während die Lichter weiter den Palast erhellten und nach oben wanderten, beugte Talon sich zu ihrem Ohr. „Es ist wunderschön, egal welche schlimmen Dinge sich dort abspielen.“
Sie drehte ihren Kopf leicht. „Vielleicht ist es nicht alles schrecklich. Ich möchte gerne glauben, dass sich zumindest ein paar ehrbare Menschen darin bemühen, dem Reich zu dienen.“
„Du bist zu gut, Griffa.“ Er küsste ihre Wange, als könnte er sich nicht zurückhalten.
Es fühlte sich gut an, also neigte sie ihren Kopf zur Seite – eine stumme Einladung. Er küsste ihren Hals, während er sie tiefer in die Schatten zog.
Menschen drängten sich nach vorne, um zu sehen, wie die Lichter den höchsten Turm des Palastes erreichten, während Griffa und Talon sich gegen den Baum drückten.
Griffa legte ihre Hand auf Talons Arm, als er erneut ihren Hals küsste, diesmal fester, und seine Zunge glitt kurz über ihre Haut.
Ein leises Stöhnen entrang sich ihr, als seine Hand langsam ihre Seite hinaufwanderte.
„Ich habe dich vermisst“, murmelte er und küsste ihre entblößte Schulter. „Komm mit mir, Griffa. Wir gehen zurück ins Tal oder in deine kleine Waldhütte. Wohin du willst.“
Sie nickte, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Er hob seine Hand, um ihr einige Locken aus dem Gesicht zu streichen. In seinen Augen loderte das vertraute Verlangen, doch diesmal lag auch etwas anders darin.
Er beugte sich hinunter, um sie zu küssen, und sie kam ihm entgegen.
Seine Zunge glitt über ihre Unterlippe, und sie öffnete ihren Mund, um ihn einzulassen. Er stöhnte leise, als er den Kuss vertiefte und seine Zunge die ihre berührte.
Griffa wollte sich gerade zurückziehen und vorschlagen, sich schnell in denWald zurückzuziehen, als ein Geräusch Talon dazu brachte, sich abrupt umzudrehen.
Hinter ihm erkannte Griffa fünf Kinder, die den Weg entlangrannten. Keines wirkte älter als zehn.
Sie wurden von drei Aurumist-Soldaten verfolgt, die schnell aufholten. Einer von ihnen hob sich durch die lange schwarze Feder an seinem Helm als Anführer hervor.
Talon warf Griffa einen kurzen Blick zu, stieß die Luft scharf aus und nickte. Er ergriff ihre Hand und sie liefen den Soldaten entgegen, ließen die Menge und die Lichter hinter sich.
„Wir müssen schnell und vorsichtig sein“, sagte er und blickte sich um.
„Natürlich“, sagte Griffa. Sie streckte eine Hand aus, als der Anführer der Soldaten sich den Kindern näherte. Plötzlich stolperte er über seine eigenen Füße und fiel flach auf den Bauch.
Die anderen beiden sprangen über ihn hinweg und setzten den Kindern nach, die nun direkt auf das Stadttor zuliefen, wo zwei weitere Wachen bereitstanden.
Die Kinder wurden langsamer und schauten zwischen den Wachen vor ihnen und den Soldaten hinter ihnen hin und her. Alle Männer hatten ihre Schwerter gezogen.
Talon ließ Griffa los und hob beide Hände. Ein starker Windstoß fegte die Kinder zur Seite, sie landeten auf einem Grasstreifen nahe der Mauer.
Griffa breitete ihre Hände aus, und die Wachen wurden durch die Luft geschleudert, bis sie gegen dicke Baumstämme prallten.
Plötzlich schrie Talon auf. Griffa spürte Talons Magie um sich herum, aber sie reichte nicht aus. Eine unsichtbare Kraft traf sie mit voller Wucht.
Im nächsten Augenblick wurde sie durch die Luft geschleudert und prallte hilflos gegen eine Mauer.














































