Ivy White
REBECCA
„Bitte, junge Dame, du willst ihn doch nicht warten lassen.“
Stimmt, denkt Rebecca bei sich. Sie kann Mark nicht warten lassen, weil sie einen Auftrag hat, den sie erledigen muss. Sie nickt mit dem Kopf und geht lächelnd die Marmorstufen hinauf.
Nun, die warme Luft ist besser als die Luft, die sie in Arlington atmet. Die Autos in der Stadt blasen den ganzen Tag lang ihre Abgase in die Luft.
Rebecca beschließt, sich den Mann, der sich anscheinend um sie kümmern soll, noch einmal anzuschauen. Sie ist schließlich Single, und wer sagt, dass sie nicht schauen darf?
Sein Anzug schmiegt sich perfekt an seinen Körper. Recht ansehnlich, denkt sie bei sich und leckt sich über die Unterlippe. Ja, sie ist Jungfrau, und nein, das hält sie nicht davon ab, den Anblick zu bewundern.
Sein schwarzer Anzug sieht schick aus, und sein weißes Hemd ist mit Knöpfen versehen, die mit einem Streifen Stoff verdeckt sind. Seine Krawatte ist metallisch grau und seine Schuhe weisen keine Abnutzungserscheinungen auf.
Nicht einmal ein Stückchen Schmutz ist auf ihnen gelandet, als sie den Rasen überquert haben. Könnte er künstlich sein?, fragt sie sich, während sie an ihrer Kleidung herunterschaut.
Wenigstens scheint sie mit ihrem blauen Anzug gut hierher zu passen. Zugegeben, er ist nicht schwarz, aber sie sieht trotzdem elegant und professionell aus. Ja, der Rasen ist künstlich, sagt sie sich und schaut auf ihre Absätze.
Sie sind nicht in die Erde eingesunken. Auch wenn sie elegant aussieht, hat sie nicht damit gerechnet, das Grundstück eines Milliardärs zu betreten. Das ist das Paradies eines Magnaten.
Plötzlich öffnet sich die Tür und Rebecca setzt ein Lächeln auf. Sie wendet ihren Blick von den Absätzen und sieht einen Mann im Eingang stehen.
Sie tritt überrascht zurück und traut ihren Augen nicht. Er hat eine aufrechte Haltung, ist etwa ein Meter achtzig groß und hält den Kopf hoch erhoben, während er die Arme verschränkt und Rebecca anschaut.
Wieder ein schwarzer Anzug. Dieser Mann jedoch trägt eine schwarze Krawatte und ein schwarzes Hemd, das seinen Oberkörper bedeckt, anstatt eines weißen. Auch seine Schuhe glänzen und wirken vielmehr wie ein Spiegel auf Rebecca.
Er steht dort breitbeinig und mit beiden Füßen fest auf dem Boden verankert.
Sein Blick wendet ruht auf Rebecca, die an die Wand zu seiner Rechten schaut und ihr braunes Haar hinter ihr Ohr schiebt.
Sie war noch nie gut darin, Augenkontakt zu halten, vor allem, wenn sie sich in jemandes Gegenwart unwohl fühlt. Was vor allem bei Männern vorkommt.
„So, so, so. Was haben wir denn hier? Rebecca Ferez, oder?“
Er schlendert auf Rebecca zu, die mit dem Kopf nickt und ihren Blick auf den Marmorfußboden richtet. Er bleibt vor ihr stehen und kommt ihr unangenehm nahe.
Sie hat das Gefühl, dass sie nicht atmen kann, da seine Brust nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt ist.
„Hat Mark dich wegen der Vereinbarung kontaktiert?“, fragt der Mann Rebecca, die den Kopf schüttelt. Sie ist nicht einmal im Stande einen kleinen, einfachen Satz hervorzubringen.
„Er konnte leider nicht kommen. Ich werde dir zeigen, was du tun musst. Du bist für ein paar Tage gebucht. Keine Sorge, ich lasse dich zurückbringen, wenn du hier bei uns fertig bist.“
Ein paar Tage, denkt Rebecca bei sich und fühlt sich niedergeschlagen.
Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass sie sich in der Gegenwart dieses Mannes unwohl fühlt und Mark nicht auftaucht, muss sie jetzt auch noch ein paar Tage in der Villa übernachten.
Dazu kommt noch, dass sie allein in einer Welt ist, die sie nicht kennt oder versteht.
„Ein paar Tage?“, murmelt Rebecca, und der Mann atmet tief ein.
Sie hat ihm noch nicht einmal ins Gesicht geblickt, um zu schauen, wie er aussieht, weil er sie mit seiner Körpersprache so sehr einschüchtert.
„Ja. Wird das ein Problem für dich sein, Fräulein Ferez?“
„Nein. Überhaupt nicht.“ Rebecca verschränkt ihre Arme vor der Brust und starrt auf die Anzugsjacke des Mannes. Er überragt sie und sie will nicht zu ihm aufschauen.
Er lässt sie durch ihren Größenunterschied wie ein Kind wirken.
Der Mann packt Rebecca am Arm und ihr Blick richtet sich auf ihn. Dunkelheit ist alles, was sie sehen kann. Sie kann nichts anderes als Dunkelheit in seinen Augäpfeln sehen.
Sie weiß, dass sie grau sind, aber sie kann es nicht wahrnehmen. Nur die Schatten, die in ihnen lauern.
Der Mann grinst. Seine weißen Zähne sind perfekt, sein gebräuntes Gesicht glänzt in der Sonne und sein schwarzes Haar ist zurückgebunden.
Die Seiten sind kürzer und wurden komplett geschoren. Ein Muster zieht sich um seinen Kopf herum. Es sieht aus wie ein Stammes-Tattoo. Nach oben hin werden seine Haare länger. Es wirkt seidig, weich und glänzend.
„Rebecca.“ Der Mann spricht in einem ruhigen, kalten Ton, und Rebecca reißt sich aus ihrer Benommenheit und starrt wieder auf seine Anzugsjacke.
„Mein Name ist nicht Rebecca. Kannst du mich bitte Becca nennen?“ Sie versucht nicht, ihren Arm aus seinem Griff zu befreien, sondern sieht nur wieder zu ihm auf, während er den Kopf schüttelt und nein sagt, ohne zu sprechen.
Ist das Lust?, fragt sich Rebecca. Sie kann sich nicht davon abhalten, zu dem makellos schönen Mann mit den grauen Augen aufzuschauen, von dem sie sicher ist, dass er in ihre Seele sehen kann.
„Mein Name ist Kenzo. Kenzo Robernero.“ Erinnerungen an das Büro kommen ihr in den Sinn, und ihre Augen weiten sich, als sie begreift, wer Kenzo ist.
Der Mann, der einen anderen Mann kaltblütig erschossen hat. Sie sagt jedoch nichts und nickt mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Kenzos Telefon klingelt und er geht ran. Er spaziert links an Rebecca vorbei und Rebecca tritt eine Stufe zurück, ohne zu merken, dass sein Freund hinter ihr steht, bis dass dieser ihren Arm ergreift und sie festhält.
„Alles in Ordnung, Fräulein Ferez?“, fragt der Mann Rebecca, die mit dem Kopf nickt und den Klos, der in ihrer Kehle steckt, herunterschluckt. Nichts ist in Ordnung. In Wirklichkeit hat sie wahnsinnige Angst.
Sie sitzt in Prentonville mit zwei Männern fest, von denen einer einen Mann erschossen hat und der berüchtigtste Verbrecher der Welt ist. Sie weiß über ihn Bescheid und wie seine Berufsbezeichnung lautet.
Unterboss der Societa Oscura. Mit hunderten Männern, die er einsetzen kann, um sich zu alles und jedem Zugang zu verschaffen. Jetzt werden Rebecca diese Tage hier erst recht lang erscheinen.
Rebecca kann Kenzos Gespräch nicht hören, aber sie ahnt, dass er gerade einigen seiner Männer Anweisungen gibt oder sich darauf vorbereitet, etwas Illegales zu tun.
Der Mann mit den blonden Haaren tippt ihr auf die Schulter, während Kenzo sein Handy an seine Brust legt. Für Rebecca sieht es aus wie ein altes Wegwerfhandy.
„Du kannst reingehen. Ich bin gleich da.“
„Kommen Sie, junge Dame“, sagt der Mann zu ihr und Rebecca hofft, dass sie die nächsten Tage überstehen wird. Sie hofft inständig, dass sie Kenzo nicht zu Gesicht bekommt.