
Meine Füße schmerzen nach der Arbeit, aber ich bin trotzdem glücklich. Es geht bergauf für mich.
"Mensch", sagt Sharon, als ich den Pausenraum betrete. "Du strahlst ja förmlich. War wohl ein guter Tag, was?" Sie bemerkt mein Lächeln. "Bestimmt ordentlich Trinkgeld bekommen."
"Das Trinkgeld war okay", erwidere ich. "Aber mein Tag hat sich einfach zum Guten gewendet, deshalb bin ich so gut drauf."
Sharon schüttelt den Kopf. "Du siehst immer das Positive", meint sie mit einem leichten Schmunzeln.
Bald werde ich ihnen sagen, dass ich gehe. Aber noch will ich nichts verraten. Am Ende erzählt es jemand den Chefs, bevor ich die Gelegenheit dazu habe.
Sharon kann zwar dichthalten, aber die meisten hier können das nicht. Außerdem möchte ich weder Sharon noch sonst jemanden mit meinem Glück betrüben.
"Fährst du heute Abend mit dem Bus nach Hause?", fragt Sharon.
Wenn Sharons Freund sie nicht abholt, nehmen wir gemeinsam den Bus. Wir fahren in die gleiche Richtung, aber ich steige vor ihr aus.
Frauen halten in der Stadt nachts zusammen. Wenn ich alleine unterwegs bin, habe ich zur Sicherheit einen Taser und Pfefferspray in der Tasche.
"Ja. Kommst du mit?", frage ich zurück.
Sharon nickt, während sie in ihre Jacke schlüpft. "Ja, Marco muss heute Abend arbeiten. Ich werde wohl die ganze Woche Bus fahren müssen."
Bald wird sie alleine fahren müssen und das tut mir leid. Trotzdem sage ich ihr nichts. Ich werde es ihr erzählen, nachdem ich morgen mit dem Chef gesprochen habe.
Ich hole meinen schwarzen Mantel aus dem Spind und setze meine rote Mütze auf. Die Nächte in San Francisco sind meist kühl, selbst im Sommer, und es ist erst Februar.
"Ich bin soweit", sage ich und hänge mir meine Tasche über die Schulter.
Wir verlassen das Restaurant und gehen ein paar Blocks zur Bushaltestelle. Schweigend laufen wir nebeneinander her.
An der Haltestelle fragt Sharon: "Wie läuft's mit Bruce?"
Ich seufze. "Wir machen eine Pause."
Bruce Chambers, seit zwei Jahren mein Freund, meinte, wir sollten eine Auszeit nehmen.
Ich halte nichts von Auszeiten.
Für mich ist das Schluss.
Er will andere Leute daten. Ich nicht. Das ist eine Trennung, keine Pause. Aber ich schätze, niemand gibt gerne zu, dass Schluss gemacht wurde.
Natürlich datet er schon jemand anderen. Darum ging es von Anfang an.
Männer können so egoistisch sein.
"Wir haben uns getrennt", korrigiere ich mich.
Der Bus kommt. Wir steigen ein und setzen uns auf unsere Stammplätze vorne.
"Du wirkst nicht besonders traurig deswegen", bemerkt Sharon.
Sie hat Recht. Bin ich auch nicht.
Bruce sieht gut aus. Groß und kräftig, mit glatter, dunkler Haut und einem netten Lächeln. Aber er denkt nur an sich und schaut anderen Frauen hinterher.
Außerdem war der Sex nicht berauschend. Das vergaß ich, wenn er nett war. Was nur der Fall war, wenn er merkte, dass ich seine Spielchen satt hatte.
"C'est la vie", sage ich schulterzuckend.
Sharon sieht verwirrt aus.
"Das heißt, so ist das Leben eben."
Selbstmitleid bringt nichts. Ehrlich gesagt dachte ich nie, Bruce wäre der Eine für immer. Er war einfach jemand, mit dem ich Zeit verbrachte.
Ich schätze, für ihn war ich das Gleiche.
"Das ist meine Haltestelle", sage ich und stehe auf, als wir uns nähern. "Bis morgen."
Mein Wohnblock ist direkt gegenüber. Ich gehe hinein und fahre mit dem Aufzug in den vierten Stock.
Die Wohnung ist klein, knapp über 30 Quadratmeter. Sie hat zwei Schlafzimmer, zwei Bäder, eine Kochnische und ein winziges Wohnzimmer.
Aber Shayla und ich finden, dass wir zu viel Miete zahlen.
Shayla begrüßt mich, als ich reinkomme. "Hey, Sugar."
Sie sagt "Sugar" mit südlichem Akzent und extra H's.
"Du lebst gefährlich", erwidere ich.
Nicht viele kennen meinen Vornamen, und das ist der Grund dafür. Shayla weiß, dass ich es hasse, Sugar genannt zu werden. Deshalb tut sie es.
"Hast du die Ankündigung zur Mieterhöhung gesehen?", fragt sie.
Shayla liegt in Yogahosen und T-Shirt auf der Couch. Ihre dunkle Haut sieht makellos aus und ihr dunkles Haar ist lang und in viele kleine Zöpfe geflochten.
Sie beginnt, einen der Zöpfe um ihren Finger zu wickeln.
"Ja, hab ich." Ich hole einige Papiere aus meiner Tasche und reiche sie ihr. "Und zum Glück wurde mir ein Bürojob bei der Blandford Corporation angeboten, der am Montag beginnt."
Ich gehe in die Küche und hole mir eine Flasche Wasser. Als ich zurückkomme, setze ich mich neben Shayla auf die Couch.
"Ich wusste gar nicht, dass du dich beworben hast", sagt sie überrascht.
Ich lache. "Ich auch nicht."
Nachdem ich erklärt habe, was passiert ist, trinke ich einen Schluck Wasser.
"Mädchen", sagt Shayla erleichtert. "Und gerade noch rechtzeitig."
Shayla ist Friseurin. So haben wir uns kennengelernt.
In meinem ersten Studienjahr suchte ich jemanden, der meine Haare glätten konnte. Eine Kommilitonin empfahl mir Shayla, also machte ich einen Termin.
Shayla gab mir die beste Haarglättung meines Lebens. Wir quatschten und lachten und wurden gute Freundinnen.
Vor zwei Jahren zogen wir zusammen, nachdem Shaylas Freund sie für einen anderen Mann verlassen hatte.
"Du brauchst einen Haarschnitt", sagt sie und begutachtet meine Spitzen. Ohne regelmäßiges Glätten wären meine Haare leicht wellig. Aber so finde ich sie einfacher zu pflegen.
Shayla zupft an meinen Haaren. "Ab ins Bad, ich schneide dir die Haare."
Ich widerspreche nicht. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Wo sonst bekommt man einen kostenlosen Haarschnitt von einer Professionellen?
"Was wirst du in diesem neuen Job machen?", fragt Shayla, während sie anfängt zu schneiden.
"Ehrlich gesagt habe ich nicht viel nachgefragt. Ich war bei der Arbeit und hatte schon lange mit Barbara gesprochen, der Frau, die mir den Job angeboten hat."
Shayla dreht meinen Kopf und erinnert mich, nach vorne zu schauen. Ich sehe sie im Spiegel an. "Ich denke, ich werde Anrufe entgegennehmen, Notizen machen, Geschäftsbriefe schreiben und solche Sachen. Das kriege ich alles locker hin."
"Gut. Vielleicht kannst du mir helfen, dort auch einen Job zu bekommen, wenn du eine Weile dabei bist", meint sie.
"Was ist mit deinem Plan, einen eigenen Salon zu eröffnen?"
Einen eigenen Friseursalon zu besitzen, ist Shaylas Traum, seit sie klein war. Sie spart jeden übrigen Cent, um diesen Traum wahr werden zu lassen.
"Das will ich immer noch", sagt Shayla. "Aber ich muss vielleicht noch etwas warten." Sie zuckt mit den Schultern. "Nur bis sich die Lage bessert."
Nein. Das lasse ich nicht gelten.
"Was hat Langston Hughes über einen aufgeschobenen Traum gesagt?", frage ich und sehe sie im Spiegel an.
"Keine Sorge, Süße, ich lasse meine Träume nicht wie eine Rosine in der Sonne vertrocknen." Shayla bürstet die abgeschnittenen Haare von meinen Schultern. "So, fertig."
Sie fährt mit den Fingern durch mein Haar und bringt es in Form. "Du siehst toll aus, wie immer."
Ich lege meine Hand auf ihre. "Danke."
"Alles für dich", sagt Shayla und kneift mir spielerisch in die Wange.
Ich lächle.
Ich würde auch alles für die Menschen tun, die ich liebe.