
Ich betrachtete nachdenklich die Tür, die sich gerade geschlossen hatte. Je länger ich hier verweilte, desto mulmiger wurde mir zumute. Es passierten einfach zu viele merkwürdige Dinge, um nicht beunruhigt zu sein.
Zunächst einmal hatte mich eine Gruppe Wölfe erstaunlich geschickt durch den Wald gelotst. Sie kannten sich offensichtlich bestens in der Gegend aus, wirkten aber auch in ihren Bewegungen äußerst koordiniert. Das war ungewöhnlich für ein kleines Rudel in so abgelegener Lage. Warum mussten sie sich so gut verteidigen können?
Bei meiner Ankunft brachten sie mich auf direktem Wege in ein blitzsauberes, hergerichtetes Zimmer, obwohl ich mein Kommen nicht angekündigt hatte. Der Geruch von Putzmitteln und frischer Bettwäsche stieg mir in die Nase, als ich eintrat. Ich bezweifelte stark, dass sie unbenutzte Gästezimmer regelmäßig auf Hochglanz brachten.
Nun hatte ich einen Stapel sauberer Kleidung vor mir, die groß genug war, um mir zu passen – was selten vorkommt. Ich bin sehr hochgewachsen und kräftig gebaut, sodass es selbst in der Großstadt schwierig ist, passende Kleidung zu finden. Die meisten meiner Sachen müssen maßgeschneidert werden. Die hiesigen Wölfe waren zwar als Tiere größer, aber nicht als Menschen. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie Kleidung in meiner Größe vorrätig haben sollten, es sei denn, es gäbe hier noch jemand anderen von meinem Schlag.
Dann war da dieses Mädchen. Sie war seltsam, und zwar nicht nur wegen ihres Aussehens. Die Arme hinkte. Es fiel kaum auf, als sie hereinkam, war aber deutlich zu sehen, als sie eilig davonging.
Für eine Wölfin war sie sehr klein gewachsen. Wahrscheinlich war sie so auf die Welt gekommen. Ihre Haut war auffallend hell und sie hatte langes, lockiges schwarzes Haar.
Ich machte mir allerdings Sorgen um sie. Sie versuchte es zu verbergen, aber ich bemerkte drei große Narben auf der rechten Seite ihres Gesichts, die sich von der Augenbraue bis zur Wange zogen und beinahe ihr Auge streiften. Sie bemühte sich, es mit ihren Haaren zu kaschieren, aber ich konnte es trotzdem erkennen. Es sah aus wie Krallenspuren.
Sie war furchtbar nervös. Ich konnte sehen, wie sie am ganzen Leib zitterte. Aber zumindest war sie ehrlich. Alles, was sie sagte, entsprach der Wahrheit. Sie wusste wirklich nicht, dass ich im Gästezimmer war. Ihre Überraschung und ihr Verhalten waren echt. Trotzdem machte ich mir Gedanken um sie.
Kleine Wölfe sind für gewöhnlich schüchtern, aber die Narbe und das Hinken zusammen mit ihrem Verhalten ließen mich vermuten, dass ihr etwas Schlimmes widerfahren war. Ich musste sicherstellen, dass sie gut behandelt wurde. Schwächere Rudelmitglieder zu verletzen ist strengstens untersagt.
Bevor ich über weitere Merkwürdigkeiten grübelte, musste ich mit meinem Neffen sprechen. Er würde sich wegen meiner Ankunft Sorgen machen.
Ich setzte mich im Schneidersitz in die Mitte des Bettes. Dank unserer besonderen Verbindung konnte ich immer noch in Gedanken mit dem königlichen Rudel kommunizieren, aber es würde einiges an Konzentration erfordern, um es über eine so große Entfernung hinweg zu bewerkstelligen.
Ich schloss die Augen und fokussierte mich auf meinen Atem, während ich versuchte, meinen Neffen zu erreichen. Es dauerte einen Moment, bis wir verbunden waren.
Ich spürte, wie mein Neffe durch unsere Verbindung über diese Informationen nachdachte. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, genau wie ich.
Mein Neffe versuchte stets, auf Nummer sicher zu gehen. Das machte ihn zu einem guten Anführer.
Ich wollte gerade von dem Mädchen erzählen, hielt aber inne, bevor ich die Information übermittelte. Ich machte mir zwar Sorgen um sie, aber es reichte nicht aus, um meinen Neffen damit zu behelligen.
Damit beendeten wir unser Gespräch. Ich stieg vom Bett und öffnete die Tür, um in den Flur zu treten, wurde aber von Dalton, dem Sohn des Alphas, aufgehalten. Daltons Gesicht war ernst, aber nicht so wutverzerrt wie im Wald.
Der Junge entschuldigte sich, meinte es aber nicht ernst. Sein Vater hatte es ihm wahrscheinlich aufgetragen. Trotzdem war es besser, keinen Verdacht zu erregen.
„Keine Sorge, junger Mann. Du hast nur deine Pflicht erfüllt, das Rudel zu schützen, und wenn ich das sagen darf, hast du einen guten Job gemacht.“
„Danke, Sir. Wenn Sie mir bitte in den großen Raum folgen würden, es wurde etwas Eintopf zubereitet, falls Sie hungrig sind. Mein Vater sagte, er würde Sie dort treffen.“
Ich forderte Dalton auf, voranzugehen, und folgte ihm den Flur entlang und dann die Treppe hinunter.
Ich spürte, wie meine Füße auf dem Holzboden kalt wurden, während ich den Gang entlangging. Das Mädchen hatte zwar gute Kleidung gefunden, aber Schuhe waren ein anderes Problem.
Dalton führte mich in einen großen Raum mit einem langen Tisch, der wahrscheinlich für Rudelversammlungen genutzt wurde. An einem Ende saßen Langston und sein anderer Sohn, Edwin. Beide standen auf, als ich eintrat.
„Lord Edmon. Willkommen im Ever Green Rudel. Bitte nehmen Sie Platz.“ Ich setzte mich rechts neben Langston. Sein Sohn Dalton nahm mir gegenüber Platz und sein anderer Sohn Edwin links von mir.
An meinem Platz stand eine Schüssel mit dampfendem Eintopf und daneben lagen einige Brotstücke. Ich nahm einen kleinen Löffel voll Eintopf, um ihn zu probieren.
Er sah zwar nicht besonders raffiniert aus, schmeckte aber ausgezeichnet. Genau das Richtige, um mich aufzuwärmen.
Wir aßen alle schweigend. Als wir fast fertig waren, wandte sich der Alpha an mich.
„Also, Lord Edmon. Was möchten Sie sich während Ihres Aufenthalts hier ansehen?“ Er kam direkt zur Sache; kein Smalltalk, nur Geschäftliches. Das gefiel mir. Ich begann, die üblichen Dinge aufzuzählen.
„Nun, ich würde gerne Ihre Finanzunterlagen einsehen, nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist, und natürlich Ihre Liste der Rudelmitglieder. Außerdem hätte ich nichts dagegen, Ihre Krieger beim Training zu beobachten.“ Der Alpha nickte, während ich sprach.
Das war beeindruckend. Ich hatte nicht erwartet, dass das Rudel in seiner Lebensweise so fortschrittlich war. Vielleicht ging hier doch nichts Schlimmes vor sich.
„Ich bin gespannt darauf zu sehen, was Sie auf die Beine gestellt haben. Bisher klingt es sehr beeindruckend.“ Der Alpha sah stolz aus bei meinem Lob.
„Wir sind einfache Leute, aber wir geben unser Bestes“, meldete sich der älteste Junge zu Wort. „Die Krieger trainieren normalerweise am Morgen, bevor sie zu ihren Aufgaben gehen. Wenn Sie uns bei unseren Übungen zusehen möchten, kann ich Ihnen danach unsere Aufzeichnungen zeigen.“
„Das wäre ausgezeichnet“, erwiderte ich. Bisher schien alles normal zu sein. Vielleicht ein holpriger Start, aber ansonsten unauffällig.
„Oh, da wäre noch eine Sache ...“, fügte ich hinzu. Alpha Langston wandte sich mir mit einem Lächeln zu. „Ich würde gerne auch die Frauen sehen.“ Ich hörte ein lautes Geräusch, als Dalton seinen Löffel auf den Tisch schlug und mich schockiert anstarrte.
„Wozu müssen Sie die Frauen sehen?“, fragte er aufgebracht. Ich sah ihn mit verengten Augen an, und er starrte zurück.
„Dalton!“, rief sein Vater und unterbrach unseren Blickwechsel. Dalton wandte sich seinem Vater zu, bevor er den Kopf senkte, um seine Reue zu zeigen.
Ich betrachtete Daltons Gesicht und verbarg meinen Argwohn. Ich fragte mich, ob seine Aufgabe auch den Schutz des hinkenden Mädchens einschloss, das ich gesehen hatte? Die Indizien deuteten darauf hin, dass dem nicht so war.
„Aber verzeihen Sie meine Frage, mein Lord ... warum möchten Sie die Frauen sehen? Sie suchen doch nicht etwa eine Gefährtin, oder?“, fragte Langston.
„Nein.“ Ich hatte einmal eine Gefährtin. Ich brauchte und wollte keine andere.
„Ich verstehe ... Nun, verzeihen Sie mir, mein Lord, aber die Frauen ... sie sind schüchtern und beschützen ihre Kinder. Wenn sie den Grund für das Treffen verstünden, würden sie sich wohler fühlen.“
Dieser Alpha war geschickt in seiner Ausdrucksweise. Jemand, der es nicht besser wüsste, könnte seine Worte als Besorgnis um sein Rudel deuten, während er in Wirklichkeit versuchte, Informationen zu erhalten.
„Die Krone möchte sicherstellen, dass ein Rudel für sich selbst sorgen kann. Ein großer Teil davon wird durch die Anzahl der Weibchen in einem Rudel bestimmt. Habt ihr eine Luna für euer Rudel?“ Ein dunkler Ausdruck huschte über Langstons Gesicht, als ich eine Luna erwähnte.
„Das tut mir leid“, erwiderte ich. Langston nickte. „Und hat dein Sohn eine Gefährtin?“ Ich wandte mich Dalton zu.
„Nun, da liegt das Problem. Eine Luna ist für ein starkes Rudel unerlässlich. Ohne eine wird das Rudel schwächer und kann mit der Zeit zerfallen. Es sei denn, ihr habt jemanden, der diese Aufgabe übernimmt?“ Ich sah sie fragend an.
Die beiden blickten sich an und begannen eine stille Unterhaltung über ihre Geistige Verbindung. Nach einem Moment wandte sich Langston wieder mir zu.
„Nun, ohne eine Luna könnte euer Rudel schließlich so schwach werden, dass es zerfällt. Das ist nichts, was die Krone geschehen lassen möchte.
Wenn ich zeigen kann, dass ihr genug starke Weibchen habt, müsste sich die Krone nicht in die Verwaltung der Bevölkerung eures Rudels einmischen.“
„Einmischen – wie?“, fragte Dalton nachdrücklich.
„Auf verschiedene Weise. Du und andere könnten gezwungen werden, das Rudel zu verlassen, um eure Gefährtinnen zu finden. Die Krone könnte auch neue Mitglieder in euer Rudel schicken oder in sehr schlimmen Fällen das Rudel komplett auflösen ...“
„Natürlich wird das nicht nötig sein, wenn die Krone sicher ist, dass ihr ein stabiles Rudel mit sowohl Männern als auch Frauen habt.“
„Vielen Dank für die Erklärung, Lord Edmon“, sagte Langston ruhig, „Ich werde es in die Wege leiten.“
„Danke, Alpha Langston. Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“
„Wie lange planen Sie bei uns zu bleiben, wenn ich fragen darf?“
„Versuchen Sie, mich loszuwerden, Langston?“, sagte ich und unterdrückte ein Lachen.
„Ich dachte nur, wenn Sie länger hier wären, könnte ich besser passende Kleidung für Sie besorgen lassen, obwohl es scheint, dass Sie sich zu behelfen wussten.“
Eigentlich hätte ich jetzt wirklich gerne einen gut sitzenden Anzug. Ich hatte mein übliches Reisegepäck zurückgelassen, um leichter reisen zu können.
Ursprünglich hatte ich gedacht, dass dies nur ein kurzer Zwischenstopp sein würde, vielleicht eine Übernachtung, bevor ich in die Stadt zurückkehren würde. Die Dinge hatten sich anders entwickelt.
„Sobald meine aufgelisteten Aufgaben erledigt sind, werde ich abreisen. Wie Sie sagen, Alpha Langston, ich bin ein vielbeschäftigter Mann.“
„Dann werde ich die Frauen bitten, morgen Nachmittag zu kommen. Sie könnten sie nach der Einsicht in unsere Aufzeichnungen sehen.“
„Das ist sehr effizient von Ihnen“, antwortete ich mit sarkastischem Unterton. Ich wusste, was er vorhatte.
Sie versuchten, mich loszuwerden. Ich war mir nicht sicher warum, aber ich würde versuchen, es herauszufinden, bevor ich gehen musste, weil ich keinen Grund mehr zum Bleiben hatte.
„Nun, damit wünschen meine Söhne und ich Ihnen eine gute Nacht, Lord Edmon. Bitte lassen Sie es uns wissen, wenn Sie etwas brauchen.“ Er forderte mich auf zu gehen. Langston stand auf, zusammen mit seinen Söhnen. Ich erhob mich ebenfalls.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Alpha Langston“, ich verließ den großen Raum und ging zurück in Richtung meines Gästezimmers.
Das Abendessen hatte mich noch misstrauischer gemacht als zuvor. Sie waren zu bereitwillig zu helfen, damit ich schnell wieder abreisen konnte.
Niemand begleitete mich zurück durch die Flure zu meinem Zimmer, und ich war froh, die ruhige Zeit nutzen zu können, um über die Informationen nachzudenken, die sie mir gegeben hatten.
Ich war so frustriert von dem Gespräch, dass ich den Schuhkarton vor meiner Tür fast übersehen hätte. Ich betrachtete ihn misstrauisch. Der Alpha wäre doch nicht so dumm zu versuchen, mich umzubringen, oder?
Ein gefalteter Zettel lag oben auf der Schachtel. Ich nahm ihn und öffnete ihn, um eine ordentliche Handschrift zu sehen.
Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich mich an unser früheres Treffen erinnerte. Dieses Mädchen war seltsam, aber aufmerksam.
Ich öffnete den Schuhkarton und fand ein Paar handgestrickter Socken. Sie waren nicht ganz meine Größe, aber das Strickmuster war dehnbar genug, dass ich meine Füße hineinzwängen konnte.
Ich betrat das Gästezimmer und nahm die Schachtel und ihren Inhalt mit. Drinnen setzte ich mich aufs Bett und zog schnell die Socken an. Meine Füße begannen sofort, sich darin zu wärmen.