
„Raphael, wo zerrst du mich –“, verlangte ich zu wissen, aber bevor ich die Frage beenden konnte, zog er mich in einen Nebenraum.
Er schloss die Tür. Ich sah mich um, es war ein Büro. Vermutlich Gabriels.
„Großartig. Wir sind in einem Büro. Willst du mir sagen, was wir hier machen?“
„Ich wollte nur mit dir alleine sein“, antwortete er und seine Augen tanzten schelmisch.
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich kein Interesse habe, bis das in deinen dicken Schädel geht?“, fragte ich unwirsch, in der Hoffnung, dass ich, je unfreundlicher ich war, das Verlangen tief in mir besser unterdrücken konnte.
Das Verlangen, das sich nach ihm verzehrte.
„Ich weiß, dass du lügst. Ich kann durch dich hindurchsehen.“
„Zum hundertsten Mal, ich lüge ni–“
Aber er packte mich, bevor ich ausgeredet hatte, und schob mich gegen eine geschlossene Tür. Er presste seinen Körper an meinen.
Jedem anderen hätte ich den Kopf abgerissen. Kein Mann schubste mich herum, presste sich an mich, ohne meine explizite Aufforderung.
Aber Raphael … Es war, als ob er meinen Körper nach ihm verlangen hörte. Er war wie Öl auf dem Feuer meiner Begierde.
„Was wolltest du sagen?“, flüsterte er in mein Ohr und ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut.
Er zog seinen Kopf ein Stück zurück, so dass wir einander wieder direkt ins Gesicht sahen, nur Millimeter voneinander entfernt.
Ich wollte, dass er mich küsste. Nein, ich brauchte es, von ihm geküsst zu werden.
Ich musste seine Lippen schmecken, sie auf mir spüren, sie auf meiner Haut fühlen, wie sie meinen Körper hinunterglitten.
Bevor ich eine weitere Sekunde Zeit hatte zu fantasieren, legte er mir eine Hand auf die Brust.
Ich schnappte nach Luft, als er seine Hand auf mein Herz legte. Es lag nur der dünne Stoff meines Shirts zwischen uns.
„Dein Herz rast.“
„Das tut es nicht.“
Schon hatte er meine Hand genommen und sie gegen meine Brust gedrückt. Ich konnte meinen Herzschlag spüren und er raste eindeutig.
„Wenn dein Körper jetzt schon so stark reagiert, stell dir vor, was in der Paarungszeit passieren wird.“
Er sah mich so eindringlich an, mit solchem Hunger, ich wollte mich ihm nur noch hingeben.
Ich wollte meinen Geist einfach loslassen, meinem Körper die Führung überlassen … aber dann würde er gewinnen. Ich konnte ihn nicht gewinnen lassen.
Ich schob ihn von mir weg und ging zur entlegensten Wand des Raums. „Du musst mich in Ruhe lassen.“
„Ich kann dich nicht in Ruhe lassen.“
„Warum?“
„Das habe ich dir doch gesagt. Ich kann nicht aufhören, an dich zu denken. Ich kann nicht aufhören, mich nach dir zu verzehren, Babe. Es gibt nur dich.“
Die Art, wie er sprach, so aufrichtig … wäre ich ein junges Mädchen, er hätte mich täuschen können. Aber das war ich nicht. Ich war schon zu lange am Leben, hatte zu viel gesehen, um mich von Raphael Fernandez täuschen zu lassen.
„Das ist mir egal“, antwortete ich.
„Ich will niemanden sonst haben“, fuhr er fort und kam wieder näher.
„Jedes Jahr, immer wenn ich in Hitze bin, drehe ich durch. Du etwa nicht? Drehst du auch durch vor Verlangen, vor Sehnsucht? Ich will nur dich, Eve. Aber du bist nie da.“
„Und ich werde auch dieses Mal nicht da sein.“
„Ich interessiere mich nicht für andere Frauen, verstehst du das nicht? Sie geben mir überhaupt nichts. Gar nichts. Aber ich habe keine Wahl. Du lässt mir keine Wahl.“
„Also nehme ich sie mir. Aber es ist nie befriedigend. Es ist nie, was ich brauche. Du bist das Einzige, was ich brauche.“
„Du schläfst mit ihnen? Den anderen Frauen?“
Er nickte. „Aber ich verabscheue mich danach selbst. Du musst mir glauben. Ich weiß, es ist nicht richtig, ich weiß, ich sollte widerstehen, aber es ist, … als ob ich es nicht unter Kontrolle habe.
Wenn ich in Hitze bin, brauche ich einfach nur Sex. Und wenn ich nicht nachgebe, beeinflusst das alles. Es beeinflusst meine Rolle als Alpha –“
„Oh, halt die Klappe! Erzähl mir nicht die Geschichte vom armen, kleinen Alpha des Millenniums, Raphael.“
Ich stürmte zur Tür, mir war übel geworden. In dem Moment, in dem er mir gesagt hatte, dass er die anderen Frauen vögelte, hatte sich meine Erregung in Luft aufgelöst.
Die Träumerei war vorüber.
Aber bevor ich die Klinke runterdrücken konnte, packte Raphael mich am Ellbogen. Er drehte mich sanft zu sich, so dass ich ihn wieder ansah. „Du bist wütend.“
„Warum?“
„Du kannst andere Frauen vögeln! Du bist körperlich in der Lage mit … mit … ihnen Sex zu haben …“ Ich schweifte ab, schon ärgerte ich mich, dass ich so ehrlich zu ihm war.
„Du kannst das nicht.“ Er sagte es sanft und leise, und dann zog er überrascht die Augenbrauen hoch. „Du kannst das nicht?“, wiederholte er.
„Das geht dich nichts an“, zischte ich ihn an.
Aber es stimmte. Ich konnte nicht heiß werden … Ich konnte keinen Sex haben … mit niemand anderem. Und es war nicht gerecht, dass er es konnte.
Er streckte eine Hand aus, schob mir eine Strähne aus dem Gesicht und seufzte. Die Geste erwischte mich unvorbereitet. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich auslachen, mir einen seiner schelmischen Blicke schenken und mich wieder gegen die Wand pressen würde.
„Ich wollte dich nicht aufregen.“
Ich verdrehte die Augen. „Du hast mich nicht aufgeregt.“
„Diese Saison, diese Hitze, es wird anders sein dieses Mal, Eve. Weil wir beide in Lumen sind. Wir wollen einander.“
Er nahm meine Hand und diesmal zog ich sie nicht weg. Es lag etwas in seinen Worten, die Art, wie er mich ansah … Es schien, als wäre er ein anderer Mensch.
„Warum bist du hier?“, flüsterte ich.
„Du kennst die Antwort, oder nicht?“ Er zog mich an sich und dann spürte ich seine Lippen auf meinen.
Wir küssten uns zärtlich, doch dann wurden unsere Küsse rauer. Das Feuer war zurück, es brannte in meinem Inneren - unsere Küsse so heiß, so dringlich, die Welt um mich verschwamm.
Wir zerrten aneinander, mussten uns näher sein, und dann spürte ich die Wand hinter mir. Raphael hatte mich dagegen geschoben und nun presste er seinen Körper gegen meinen. Ich konnte seine Erektion spüren, aber das reichte mir nicht.
Ich wollte mehr von ihm. Alles.
„Du bist so verflucht sexy“, flüsterte er zwischen Küssen und ich öffnete die Augen, um ihn anzusehen. Seine dunkelbraunen Augen sahen mich an, aber es war ein Blick, den ich schon oft gesehen hatte.
Ich befreite mich aus seinem Griff. Ich rannte auf die andere Seite des Raums. „Nein. Nein, Raphael. Das kann nicht passieren. Ich lasse es nicht zu.“
„Wovon redest du?“, verlangte er zu wissen und fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar.
„Du kannst mich nicht haben. Ich erlaube es nicht.“
„Du ergibst keinen Sinn.“
„In aller Deutlichkeit. Ich will und werde dich nie wollen. Ich werde mich nicht freiwillig fügen. Du willst mich? Versuch es dir zu holen. Aber es ist gegen meinen Willen.“
„Ich hatte in meinem ganzen Leben nie eine Frau gegen ihren Willen“, donnerte Raphael.
Ich wusste, es würde ihn verletzen. Deshalb hatte ich es gesagt. Werwölfe - besonders Alphas - waren seit Menschengedenken gegen Vergewaltigung.
Für sie bedeutete Vergewaltigung, dass sie keine Liebe anziehen konnten. Es bedeutete, dass der Wolf unwürdig war. Und Werwölfe waren nichts ohne ihr Überlegenheitsgefühl.
„Ich verstehe nicht, warum du vor mir wegläufst“, sagte er.
Er kam wieder auf mich zu, aber ich hatte genug von diesem Spielchen. Es war egal, wie feucht ich vor Begierde war, wie sehr ich mich nach seinen Lippen auf meinen sehnte, das alles war egal.
Ich öffnete das Fenster hinter mir. „Du musst das nicht verstehen“, sagte ich ihm, bevor ich aus dem Fenster sprang. Ich hörte ihn zum Fenster laufen, als ich mich an einem Ast festhielt und nach vorne auf einen weiteren Baum schwang.
Aber es kümmerte mich nicht. Ich schüttelte meinen Kopf frei von diesen Gedanken, frei von allem, was mit Raphael Fernandez zu tun hatte. Ich war aus einem Grund in Lumen und das war, um die Morgan-Schwestern zu beschützen.
Aber das Datum pochte in meinem Kopf. Es war der 11. November.
Ich hatte nur noch anderthalb Monate Zeit.
Ich lief durch Woodsmoke, die Nachbarschaft der Morgans, als ich den Spielplatz am Ende der Straße sah. Ich beschleunigte meinen Schritt, stapfte schneller mit meinen Stiefeln, bis ich die Parkbank erreichte.
„Du bist gekommen“, sagte ich zu dem großen, mittelalten Mann auf der Bank. Er hatte gut frisiertes Haar, ein warmes Lächeln und trug eine Streberbrille.
„Wie, ist das alles, was ich zur Begrüßung höre?“, fragte er mich.
Ich lächelte und setzte mich neben ihn. „Es ist schön, dich zu sehen, Kim.“
„Ebenso. Alles gut?“ Kimbringe kannte mich schon lange. Seit Jahrhunderten. Also wusste er, dass ich mich nie einfach nur so meldete.
„Sicher. Es ist nur … Ich brauche Informationen.
„Hast du dafür nicht deinen Zögling?“
„Das ist zu groß für Killian.“
„Ich höre.“
„Es geht um …“ Ich hielt inne, sah Kimbringe in die Augen. Er nickte, verstand sofort.
„Ich habe nichts Neues von ihm gehört. Schon seit einer Weile nicht mehr.“
Ich atmete auf. „Du gibst mir Bescheid, wenn du etwas hörst?“
„Natürlich, Eve“, antwortete Kimbringe und tätschelte mir die Hand. „Ah, bevor ich es vergesse …“
Er stand auf und klopfte sich auf beiden Seiten auf die Jackentaschen, bevor er fand, wonach er suchte. Er griff hinein und zog eine kleine Geschenktüte hervor. Wie sie in seine Tasche gepasst hatte, war mir ein Rätsel.
Wesen wie Kimbringe, göttliche Wesen, besaßen mehr Magie als irgendein anderes Geschöpf. Sie waren so gut wie allmächtig. Anscheinend konnten sie auch Geschenktüten in Jackentaschen verschwinden lassen.
Er streckte sie mir entgegen. Ich sah ihn an und er musste kichern, als er meinen Gesichtsausdruck sah.
„Wenn das rosa Lippenstift ist, waren wir die längste Zeit Freunde“, stellte ich klar und griff in die Tüte. Ich zog eine Pillendose hervor. Mehr R21-Tabletten.
„Danke, Kim.“ Ich nickte ihm zu. Ich hatte nur noch ein paar wenige Tabletten übrig in der Dose bei den Morgans und in Lumen gab es schließlich keine Apotheke, die mich damit versorgte.
„Wozu sind freundliche, göttliche Wesen denn sonst da?“, fragte er mit einem Lächeln. „Aber das ist nicht alles. Es ist noch etwas in der Tüte.“
„Was?“
„Etwas, dass du bald brauchen wirst. Lass sie niemals aus den Augen, hörst du?“ Ich sah Kimbringe an und wollte wegen seiner Dringlichkeit die Augen verdrehen.
Aber ich wusste es besser. Kim war ein mächtiges Wesen, ja, aber er war auch die einzige Person in meinem Leben, die mir stets zu Hilfe kam.
Also griff ich erneut in die Tüte und suchte darin. Erst fand ich nichts, aber dann war es, als ob sie plötzlich darin auftauchten. Sie waren hart, aus Glas, dachte ich. Es waren fünf Stück. Nein, sechs.
Ich zog eine heraus. Es war eine Glasphiole. Wie sie ein Schüler im Chemieunterricht verwenden würde.
Aber in meinem Leben hatten sie nur einen Zweck.
Um Blut zu transportieren.
„Kim, wofür ist das?“, fragte ich und drehte mich wieder zu ihm. Aber außer mir saß niemand mehr auf der Bank. Kimbringe war verschwunden.