
Kali schluckte hart, als sie Lucius anstarrte. Sie hatte das Geräusch von zerbrechendem Glas gehört und dachte, jemand würde Hilfe brauchen. Sie bereute ihre Entscheidung sofort, als sie den Blick sah, mit dem er sie anstarrte.
Er zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Vielleicht um zu erklären, warum sie ohne Klopfen in sein Arbeitszimmer gestürmt war.
Kalis Augen folgten seiner Handbewegung, als er langsam seine Ärmel hochrollte. Das wirbelnde schwarze Tattoo, das seine Unterarme zierte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Sie stolperte rückwärts und tastete nach dem Türknauf.
"Ich wusste nicht, dass du noch hier bist. Ich dachte, Olivia hätte dich zu sich gerufen, sobald sie eine andere Position gefunden hat. Hat sie sich denn noch nicht bei dir gemeldet?" fragte er.
Kali war stumm, ihre Augen waren auf den großen Fleck auf seinem Hemd geheftet.
Er musste ihren Blick bemerkt haben, denn er knöpfte das Hemd mit geschickten Fingern auf und zog es aus. Er ging zu dem kleinen Schrank in der Ecke des Raumes und nahm ein perfekt gebügeltes, neues, weißes Hemd heraus.
Kali schloss die Augen und hasste die Angst, die sein männlicher Körper in ihr auslöste. Ihre Mutter schickte sie normalerweise nach draußen, wenn sie abends Besuch hatte, aber an kalten Winternächten ließ sie Kali in der Küche mit ihrem Handy sitzen, die Lautstärke auf die höchste Stufe gedreht und mit Kopfhörern. Selbst mit den Kopfhörern hörte Kali Stimmen und Streitigkeiten. Manchmal hörte sie Ohrfeigen und die Schreie ihrer Mutter.
Sie lernte schon in jungen Jahren, wozu Männer fähig waren. Sie wusste, welchen Schaden selbst ein kleiner, dünner Mann verursachen konnte, der blaue Flecken im Gesicht ihrer Mutter hinterließ.
Die Angst, die sie in diesen Nächten verspürte, konnte sie nicht abschütteln.
Dieser Mann vor ihr könnte sie mit einem Schlag töten, wenn er wollte. "Du hast mir nicht geantwortet", sagte er, während er sein Hemd zuknöpfte und in seine Hose steckte. "Hast du etwas von deiner Mutter gehört?"
Sie schüttelte den Kopf. "Marta hat gesagt, ich könnte in dem Zimmer hinter dem Stall bleiben. Ich habe Ben im Garten geholfen."
"Hmm." Er wandte sich von ihr ab, seine Augen auf das Porträt an der Wand gerichtet.
Sie stand dort, bewegungslos, nicht wissend, ob er sie aus der Villa und von ihrer kleinen Schwester vertreiben würde.
"Bitte räum das auf."
Kali zuckte überrascht zusammen, und als sie den Blick in Lucius' Augen sah, ging sie los, um einen Besen und einen Mopp zu holen.
Sie war dankbar für den Befehl. Sie brauchte etwas, um ihr Gehirn wieder in Gang zu bringen.
Als sie zurückkam, saß Lucius am Schreibtisch und ignorierte sie.
Es war eine Erleichterung. Ignoriert zu werden war viel besser, als ihm in die Augen zu schauen. Sie war es gewohnt, ignoriert zu werden. Seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, machte ihr Angst.
Mit dem Eimer neben sich kniete sie sich hin, um die zerbrochene Flasche aufzuheben. Sie hatte vergessen, ein Paar Handschuhe mitzubringen, und in ihrer Hast erwischte sie die scharfe Kante eines Glassplitters und zog laut den Atem ein, als er tief in das weiche Fleisch ihres Daumens schnitt.
Das Blut sprudelte aus dem Schnitt, aber Kali spürte keinen Schmerz. Es stach nur und ärgerte sie.
Sie ignorierte es, wischte das Blut an ihrem Hemd ab und beeilte sich, den Job zu Ende zu bringen.
"Es ist alles sauber. Darf ich jetzt gehen?" fragte sie und stand neben ihm.
Er drehte sich um und sah sie an, den Blick auf das Blut auf ihrem Hemd gerichtet.
"Ist das Blut?", fragte er und starrte auf den roten Fleck.
Instinktiv blickte sie nach unten und zog mit ihrer verletzten Hand am Hemd, was noch mehr Blut auf den weißen Stoff brachte.
Kali hob ihren Blick nicht. Sie sah auf den Fleck, als ob er sie hypnotisierte.
"Schau mich an, wenn ich mit dir rede", forderte Lucius.
Sie hob ihre mokkafarbenen Augen zu seinen, und ihr Mund bebte.
Lucius fluchte leise und öffnete seine Schreibtischschublade. Er zog ein Stofftaschentuch heraus und griff nach ihrer Hand, um die Wunde zu untersuchen.
Kali war völlig wachsam und beobachtete jede seiner Bewegungen, während er ihren Finger in seiner Hand hielt. Sie zog ihre Schultern zusammen und erwartete einen Wutausbruch.
Lucius sah sie an. "Sei nicht so schüchtern. Du musst lernen, wie man mit Menschen spricht. Wenn du unter meinem Dach lebst, kannst du nicht jedes Mal deine Zunge verschlucken, wenn ich mit dir rede."
Er zog einen scharfen Glassplitter aus ihrem Daumen und drückte das Taschentuch auf die offene Wunde. "Warte", sagte er, als er sich zu dem Regal auf der anderen Seite des Raumes drehte und eine weitere Flasche herausholte. Er entkorkte sie und goss Whisky in ein Glas.
Er nahm ihre Hand und tauchte ihren Finger in die bernsteinfarbene Flüssigkeit.
Sie hielt die Luft an, mehr vor Überraschung als vor Schmerz, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.
"Es kann nicht so schlimm sein. Es ist nur ein kleiner Schnitt."
Lucius nahm Kalis Daumen aus dem Whisky und wickelte eine frische Serviette darum. "Gehst du zur Schule?", fragte er und seine Augen verengten sich ein wenig.
Kali verneinte mit einem Kopfschütteln und versuchte, ihre Hand aus seiner zu ziehen.
Er ließ sie ohne Widerstand los.
"Wie alt bist du?"
Kali schluckte, bevor sie antwortete. "Siebzehn."
"Auf welche Schule bist du gegangen? Bereitest du dich auf die Universität vor?"
Sie stotterte, fühlte sich verlegen. "Ich habe oft die Schule gewechselt. Die letzte war dort, wo wir lebten, bevor wir hierherkamen."
Er sah sie an, als ob er mehr erwartete.
"Ich war eine schlechte Schülerin, Signor Casano. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, und ich bin eine langsame Lernerin."
Lucius sagte nichts dazu.
Kali wusste, dass sie ihren Fall darlegen musste, um ihn davon zu überzeugen, sie bleibenzulassen. "Bitte, Sir, ich würde gerne hier in der Villa bleiben. Ich bin eine fleißige Arbeiterin und kann aushelfen und mich um meine Schwester kümmern."
Sie beobachtete, wie Lucius zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch zurückkehrte.
"Es wäre gut für Sarah, mehr über ihre Mutter und deine Familie zu erfahren", sagte er schließlich.
Kali hielt den Atem an, aus Angst, dass jedes weitere Wort gegen sie verwendet werden könnte.
Lucius nickte. "Du kannst bleiben, solange ich nicht viel von dir sehe oder höre. Ist das klar?"
"Ja, Sir."
"Marta wird dich anleiten, dich einarbeiten."
Er sah sie wieder an, als sie weiterhin schwieg. "Hast du mich verstanden?"
Kali nickte und ging rückwärts zur Tür, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Er nickte. Und mit einer Handbewegung entließ er sie.
Sie ging aus dem Arbeitszimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Als sie endlich alleine im Flur war, wickelte sie ihren Finger aus und steckte ihn in den Mund, um an der Wunde zu saugen. Ihr Gesicht verzog sich bei dem Geschmack des Whiskys, während ihr Herz tanzte. Sie wusste nicht, von welchem Teufel sie geritten wurde, aber sie blieb bei Sarah.