Warum mussten es ausgerechnet Jakobsmuscheln sein?
Eigentlich kann ich Jakobsmuscheln ganz gut zubereiten, selbst wenn ich müde bin. Aber eine aus ihrer Schale zu lösen, ohne etwas zu verschwenden, ist verdammt schwierig. Es wäre einfacher, mir den Finger abzuschneiden, ohne zu bluten.
Genau das scheint zu passieren, als ich mich zum hundertsten Mal schneide.
Es beruhigt mich zu sehen, dass die anderen Bewerber auch nicht viel besser sind als ich. Aber ihre besorgten Blicke verraten mir, dass sie sich ihrer Sache sicherer zu sein scheinen.
„Habt ihr das schon mal gemacht?“, frage ich, als mein Messer von der Schale abprallt und beinahe meine Hand trifft.
„Nee“, antwortet Marie, eine große Frau mit roten Haaren, die eine Kopfbedeckung trägt, obwohl sie keine braucht. „Der Chef hat's uns gezeigt, als wir reinkamen. Du hast's um ein paar Minuten verpasst.“
Die beiden Typen in der Ecke, die sich den ganzen Tag angebiedert haben, lachen darüber. Ich brauche ihr Gelächter nicht, um mich daran zu erinnern, dass ich heute Morgen Mist gebaut habe. Sie können froh sein, dass ich mich mit diesem Messer mehr verletzen würde als sie, wenn ich versuchen würde, mich zu rächen.
Während ich es mit einer neuen Muschel versuche, denke ich über meine Strafe nach. Ich bereue es nicht. Vielleicht sollte ich sogar nett zu meiner Mitbewohnerin sein, wenn ich nach Hause komme. Immerhin wüsste ich ohne sie nicht, wie Chef Helion schmeckt, wenn er –
Nein! Ich verdränge die Gedanken. Du musst dich konzentrieren, sonst schneidest du dir wirklich noch einen Finger ab, ermahne ich mich.
„Ich würd' dir ja zeigen, wie's geht, aber ich muss um sechs los. Meine Freundin nimmt mich mit auf einen Drink, um meinen ersten Tag zu feiern“, sagt Marie mit einem entschuldigenden Lächeln.
Oder ist es hämisch? Ich entscheide mich für Ersteres. „Schon okay, danke. Ich bleib' länger und schau's mir online an. Wie schwer kann's schon sein?“
Schwer.
Als der liebe Gott die Jakobsmuscheln erschuf, wollte er nicht, dass man sie isst. Aber natürlich wollen wir Menschen alles essen, was lebt. Also sitze ich hier um acht Uhr abends, von oben bis unten mit Muschelschleim bekleckert. Immerhin hab ich was vorzuweisen.
Ich hab gelernt, wie man sie aus der Schale löst. Wenn Chef Helion mich morgen bittet, es ihm zu zeigen, bin ich sicher, dass ich's gut machen werde. Das war nicht als Witz gemeint.
Meine Hände sind vom Hantieren mit den eiskalten Schalen ganz kalt geworden, also geh ich zum Waschbecken, um sie aufzuwärmen, bis ich sie wieder normal bewegen kann. Das fließende Wasser lässt mich abdriften und meine Gedanken schweifen.
Diese Probezeit ist genauso hart, wie ich's mir vorgestellt hab. Es geht schließlich um viel. Chef Helion macht keine Scherze, wenn er hundert Euro für ein Essen verlangt. Wenn ich also nicht perfekt bin, werd ich kläglich scheitern.
Nachdem ich die anderen Bewerber gesehen hab, bin ich nicht eingeschüchtert. Aber ich bin auch nicht selbstsicher. Und normalerweise bin ich 'ne selbstbewusste Person. Aus gutem Grund. Ich war die Beste in meiner Klasse, sehr hilfreich für meinen letzten Chef und, am wichtigsten, ich kann kochen. Ich kann verdammt gut kochen.
Ich ball meine Hände zu Fäusten, um zu sehen, ob ich sie bewegen kann, aber sie sind noch nicht ganz warm. Also lass ich meine Gedanken zu Chef Helion und dem Vorfall schweifen. Und ob ich will, dass es wieder passiert.
Ich entscheide, dass ich's will, glaub aber nicht, dass es passieren wird. Er tat's, um seine Dominanz zu zeigen, und ich hab meine Lektion gelernt. Warum sollt er's also noch mal tun müssen? Ich werd ihm definitiv keinen weiteren Grund geben, mich zu bestrafen. Männer wie er haben nicht viel Geduld.
Und warum sollt er das zum Vergnügen mit jemandem wie mir machen wollen? Er ist berühmt, gutaussehend und erfolgreich. Und diese Stimme. Er könnt ein Model dafür kriegen.
Ich bin ein Niemand und Neuling. Und ich hab an meinem ersten Tag hier fast versagt. Klar, ich weiß, wie man einen Schwanz lutscht, aber ich bin nicht so gut. Ich glaub nicht, dass er in mir mehr sehen wird als das Mädchen, das ihm einmal einen geblasen hat. Aber ich werd trotzdem versuchen, dass er mich auch als Köchin wahrnimmt.
Ich ball erfolgreich meine Fäuste und nehm sie aus dem Wasser, trockne sie an meinem Handtuch ab. Ich greif nach dem Desinfektionsspray und einem Tuch, um meinen Arbeitsplatz zu reinigen, und pfeif dabei vor mich hin.
„Na, kleine Köchin.“ Chef Helions Stimme ertönt hinter mir, und ich bemüh mich, mein Tuch nicht fallen zu lassen. „Zu spät gekommen und zu spät gegangen. Wenigstens bist du konsequent.“
Wie lang steht er schon da?
„Ich muss sagen“, meint er und neigt den Kopf, „ich bin überrascht, dich so spät noch hier zu sehen. Das zeigt mehr Engagement, als ich dir zugetraut hätte.“
Ich lächle. „Danke, Chef. Es ist 'ne Ehre, hier zu sein.“
„Ja, das ist es.“ Er geht zu meiner Kochstelle. „Du hattest heute schon das Vergnügen, diese Ehre zu kosten.“ Er grinst mich an und mustert mein Gesicht.
Ich schau auf meine Füße, während meine Wangen zu glühen beginnen.
Er lacht leise, dann erfüllt ein Klicken den Raum, gefolgt von einem Lichtschein. Ich blick schnell auf, um zu sehen, woher es kommt.
Er hat den Brenner an meiner Kochstelle eingeschaltet. „Kannst du 'ne Jakobsmuschel zubereiten, kleine Köchin?“
