Raven Flanagan
FREYA
„Raga, warum?“ Ihre Mutter klang verzweifelt.
„Ich kann keine Befehle missachten. Sie wollen mich zurück an der Grenze. Sie schicken alle Walküren. Aber bitte macht euch keine Sorgen, es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Nicht mehr. Jeder weiß, dass die Walküren die härtesten Frauen im ganzen Land sind. Wenn die Vargar-Mischlinge uns in der Luft sehen, werden sie sicher den Schwanz einziehen und in die Berge zurückrennen!“ Raga legte eine Hand auf die geballte Faust ihrer Mutter.
„Also hatten die Damen recht. Die Gerüchte stimmen. Es kommen mehr dieser Bestien.“ Sie stellte es als Tatsache fest.
„Wie gesagt, macht euch keine Sorgen um mich. Ich habe die Köter schon viele Jahreszeiten lang verjagt. Das wird nicht anders sein.“
Freya konnte sehen, wie sich ihre Mutter ein wenig entspannte, als Raga sie beruhigte. Vater legte eine Hand auf die Schulter seiner Gefährtin und streichelte sanft die weichen Federn, die ihren Nacken hinunterliefen.
Sie lehnte sich an Vater, mit einem traurigen Blick in ihren Augen. Sie hatte nie gewollt, dass Raga den Reihen der Soldaten beitrat. Freya vermutete, dass die meisten Eltern das nicht wollten, obwohl sie die Notwendigkeit verstanden. Jemand musste dienen. Besonders Vater, der selbst ein ehemaliger Soldat war, wusste, wie wichtig es war, die Grenze zu sichern.
„Ich muss euch sagen“, sagte Raga. „Ich werde dieses Mal nicht lange bleiben. Ich gehe übermorgen.“
Der Vater der Mädchen nickte ernst.
Mutters Augen glänzten mit unvergossenen Tränen, und sie wandte sich von ihrer Familie ab, als wollte sie sich verstecken. „Es ist spät, und der Wein hat mich erschöpft. Ich sollte mich für die Nacht zurückziehen.“ Sie erhob sich und nach einem Kuss auf die Köpfe ihrer Töchter bewegte sie sich Richtung ihres und Vaters Zimmers.
Lonan seufzte in Richtung seiner Frau, bevor er sich an seine Töchter wandte. Seine freundlichen Augen und das leichte Lächeln halfen, etwas von der Anspannung zu lösen, die Ragas Nachricht mit sich gebracht hatte.
Freya wusste, dass ihre Schwester recht hatte, es ihnen heute Abend zu sagen und nicht erst morgen, bevor sie ging. Mutter würde weniger verletzt sein, wenn sie die harte Wahrheit früher statt später wüsste.
„Wir können morgen den Tag zusammen verbringen. Gwylan würde sich freuen, wenn ihre Töchter ihr helfen, ihren aktuellen Quiltauftrag fertigzustellen. Sie bekommt eine Fülle von Anfragen, da die Nächte kühler werden.“
„Natürlich helfen wir“, sagte Freya und blickte ihre Schwester an. Raga nickte.
Damit zog sich auch ihr Vater für die Nacht zurück.
„Hilfst du mir, das Chaos aufzuräumen?“ Raga deutete auf das Geschirr auf dem Tisch.
„Auf keinen Fall! Ich räume den Tisch jede Nacht ab, wenn du weg bist. Du bist dran“, scherzte Freya und schob die Schüsseln der Familie zu Raga hinüber.
„Du undankbares Ding! Ich schütze diese Familie Monde lang und kann nicht einmal nach Hause kommen, um ein wenig Ruhe zu finden?“ Raga tauchte ihre Finger in die letzten Reste des Eintopfs aus einer Schüssel und sprang spielerisch auf Freyas Gesicht zu.
„Nein! Ich habe mich für die Nacht bereits gewaschen!“
Raga schmierte kalte Brühe auf das Gesicht ihrer kleineren Schwester, während ein Arm um Freyas Schultern geschlungen war, um sie festzuhalten. Lautes Gelächter erfüllte den Speiseraum.
„Du kannst mir jetzt genauso gut helfen. Du bist genauso schmutzig wie das Geschirr!“
Freya stieß ein Schnauben aus. Zwei konnten dieses Spiel spielen.
Sie tauchte ihre Finger in dieselbe Schüssel am Rand des Tisches. Mit einem Wisch schmierte sie den restlichen Eintopf über Ragas Stirn.
Rot gefärbte Flügel breiteten sich im Raum aus, als Raga sich zurücklehnte. Sie hatte nicht erwartet, dass Freya sich wehren würde. „Ich sollte dich nie unterschätzen, Schwester.“ Sie begann zu lachen.
Freya kicherte über ihren Sieg. Gemeinsam begannen sie, den Tisch abzuräumen und die Reste des Abendessens von ihren Gesichtern zu wischen.
Oben in ihrem Zimmer öffnete Raga die Fensterläden zwischen ihren Betten. Eine kühle Brise wehte herein, gefolgt vom frischen Duft der grünen Natur draußen. Der Geruch von Regen in der Luft kündigte die bevorstehenden Herbstschauer an. Selbst durch das dichte Blattwerk der Baumkronen konnte Freya die funkelnden, hellsten Nachtsterne ausmachen.
Freya und Raga saßen Schulter an Schulter unter dem Fenster und lauschten dem Wind, der pfiff, und den Eulen der Nacht, die riefen.
„Ich glaube, ich habe mich verliebt, Freya.“ Raga flüsterte ihrer Schwester zu. „Sag es Mutter und Vater noch nicht.“ Sie griff nach Freyas Hand und drückte sie.
„Was? Du bist verliebt?“ Freya musste alles wissen. „In wen?“ Sie war voller Neid und Aufregung für ihre Schwester. Sie wusste nicht, ob sie sich selbst jemals verlieben würde. Wer würde sie schon wollen, eine flugunfähige Kreatur?
Aber sie konnte zumindest verstehen, was Liebe war, wenn Raga es ihr erzählte.
***
„Wer ist es?“, drängte Freya. „Du musst es mir sagen.“
„Meine Kommandantin, Alvyna. Ich möchte sie nach dem nächsten Einsatz nach Hause bringen, damit sie alle kennenlernen kann.“ Ein Lächeln erhellte Ragas Gesicht.
„Erzählst du mir von ihr? Woher weißt du, dass es Liebe ist?“ Diese Kommandantin musste etwas Besonderes sein, um Ragas Aufmerksamkeit zu erregen.
„Sie ist Furcht einflößend stark. Es gibt keine andere Walküre wie sie. Sie ist die jüngste Kommandantin. Sie ist so gut. Niemand kann sie im Kampf aufhalten. Ich bin sicher, sie hat mich gewinnen lassen, als wir gefochten haben. Ich glaube, sie mag mich auch. Ich denke, wir empfinden beide etwas.“ Raga bekam einen verträumten Blick in ihren Augen, als wäre sie auf Wolke sieben.
„Wie fühlt es sich an, in ihrer Nähe zu sein?“, fragte Freya.
„Alvyna ist stark, aber sie ist auch so sanft. Wenn sie meinen Flügeln neue Farbe hinzufügt, fühlt es sich so gut an. Sie ist so zärtlich, wenn sie mir abends hilft, meine Federn zu pflegen. Sie ist gelb wie ein Kanarienvogel, und im Flug sieht sie aus, als wäre sie aus purem Sonnenlicht gemacht.“ Es war unverkennbar ein sehnsüchtiger Ton in ihrer Stimme, als Raga von dieser Frau sprach, die ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Freya konnte spüren, wie Ragas Herzschlag schneller wurde, während sie an ihre Mitkämpferin dachte. Ihre Schwester war so glücklich. Es beruhigte Freya ein wenig, zu wissen, dass es jemanden gab, der sich um Raga kümmern würde.
„Ich freue mich so für dich. Sie klingt wundervoll, und ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen. Ich weiß, sie wird gut zu unserer Familie passen.“ Freya hielt sich davon ab, etwas über ihre Eifersucht zu sagen oder darüber, dass Ragas Nachricht sie beunruhigte, dass sie selbst niemals jemanden finden würde. Wer würde sie schon wollen?
Die Schwestern umarmten einander und trennten sich, um in ihre Betten zu gehen. Sie lagen kuschelig und warm in ihren Decken, geschützt vor der Kälte der Nachtluft, die durch das offene Fenster hereinstrich.
Freya schlief ein, dankbar dafür, dass ihre Schwester ihr vertrauen konnte. Sie musste die guten Gefühle finden und festhalten, sonst würden Eifersucht und Minderwertigkeitsgefühle alles sein, woran sie denken konnte.
***
Freya schlief schlecht. Rote Augen verfolgten sie in ihren Träumen, und sie rannte so schnell, wie ihre bloßen Füße sie tragen konnten. Durch die Bäume erhaschte sie einen Blick auf schimmernde weiße Reißzähne und blutrote Augen. Die Köter jagten sie, als wäre sie nichts weiter als ein Hase im Gras.
Freya wimmerte. In ihrem Traum versuchte sie, ihre Flügel zum Fliegen zu bringen. Aber sie funktionierten nicht. Sie musste dem Monster entkommen, das hinter ihr her war. Die Flügel, die sie haben sollte, waren schlaff und nutzlos. Nichts weiter als eine Erinnerung an das, was ihr fehlte.
Selbst in ihrem Traum konnte sie nicht fliegen. Also rannte sie.
Die Bestien waren dicht hinter ihr. Sie spürte, wie sie schnell hinter ihr her rannten. Sie stolperte, fing sich aber, bevor sie fiel.
Eine Bestieberührte die Spitzen ihrer Traumflügel, die über den Boden schleiften. Sie konnte dessen Zähne spüren. Freya schaffte es, wegzuspringen, bevor es sie fangen konnte. Als Nächstes spürte sie eine riesige, krallenbewehrte Pfote auf ihren Flügeln. Das Biest würde sie in Stücke reißen.
Die Zeit verlangsamte sich.
Sie konnte dessen keuchenden Atem hinter sich hören. Sie rannte auf eine Klippe zu. Das Wesen war direkt hinter ihr.
Sie konnte seine Pfote spüren, die nach ihrem Gesicht griff. Freya hatte keine Wahl. Sie sprang von der Klippe.
Die Zeit beschleunigte sich, als sie fiel. Wieder versuchte sie, ihre Flügel zu bewegen. Wenn sie nur fliegen oder ihren Fall verlangsamen könnte, wäre sie vielleicht in Ordnung. Aber sie bewegten sich nicht einmal. Das Letzte, was sie fühlte, war das eiskalte Wasser des Flusses, als sie hineinfiel.
Freya wachte zitternd und schweißgebadet auf. Ihre Decken lagen auf dem Boden. Sie musste sich im Schlaf hin und her gewälzt haben.
Die ersten Strahlen des Morgenlichts schienen durch das offene Fenster. Doch selbst mit der aufgehenden Sonne konnte sie die Kälte, die sich tief in ihren Knochen festgesetzt hatte, nicht abschütteln.
Ihr Albtraum hatte sich so real angefühlt. Das Biest, das sie verfolgt hatte, hatte sich real angefühlt. Sie sorgte sich, dass es bedeutete, dass ihrer Schwester etwas passieren würde.
***
Der Traum verfolgte Freya den ganzen Tag, auch wenn sie versuchte, ihn hinter sich zu lassen.
Vater war zu Hause geblieben, um den Morgen mit Raga zu verbringen, bevor er zu den Feldern ging, um mit anderen Adaryn zu arbeiten, die am Rand der Kolonie lebten. Vater versprach, extra für ein großes Abendessen heute Abend mitzubringen.
Die Schwestern nahmen das Mittagessen auf der Veranda mit ihrer Mutter ein. Das Sonnenlicht sickerte durch die Baumkronen. Freya beobachtete die anderen Adaryn, die durch die Baumkronen flogen. Sie versuchte, nicht neidisch zu sein. Sie sahen so natürlich und glücklich aus.
Nach ihrem Traum in der vergangenen Nacht fühlte sie sich so weit entfernt von ihrem Volk. Alle konnten fliegen, nur sie nicht. Sie fühlte sich im Vergleich zerbrochen und machte sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Schwester.
Versuch einfach, die Zeit mit Raga zu genießen, solange sie zu Hause ist, sagte sie sich selbst.
An diesem Abend nahm sich Raga die Zeit, Freyas Haare zu bürsten und zu flechten. Die langen, fast weißen Strähnen fielen ihren Rücken hinunter und über die flaumigen Federn, die sich entlang ihrer Wirbelsäule erstreckten. Ihr Haar war viel länger als die kurz geschnittenen, welligen Locken, die Ragas stolzes Gesicht umrahmten. Seit sie kleine Küken waren, hatte Raga dafür gesorgt, Freyas Haare jeden Abend zu flechten und ihre Federn sauber und gepflegt zu halten.
Jetzt hatte Raga Alvyna, die ihr half, und Freya musste sich um sich selbst kümmern.
Aber heute konnte Freya sich revanchieren, indem sie Ragas Haare zu einer Krone auf ihrem Kopf flocht. Sie wünschte, sie hätte Blumen, um sie wie damals hineinzubinden, als sie jung waren.
„Mach dir keine Sorgen, Kleine. Ich komme nach Hause, sobald die Grenzen sicher sind.“ Raga schob Freya sanft zu ihrem Bett, bevor sie in ihr eigenes kletterte.
Am nächsten Morgen, als Freya aufwachte, waren ihre Schwester und ihre Rüstung verschwunden. Raga war vor Sonnenaufgang losgeflogen, um mit den anderen Walküren das Adaryn-Gebiet zu bewachen.
Freya kuschelte sich in ihrem Bett in das Vorlicht des Morgens. Sie versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte wieder von den Bestien geträumt. Nur dieses Mal verfolgten sie ihre Schwester.