Myranda Rae
Werwölfe sind die Kinder des Mondes.
Der erste von uns, der erste Alpha, war ein Mann, der den Mond so sehr liebte, dass dieser ihm das Geschenk der Unsterblichkeit machte, indem er ihm erlaubte, sich in einen Wolf zu verwandeln.
Anders als andere Tiere, die sich im Glanz der Sonne aalen, heult der Wolf den Mond an.
Er verwandelte den ersten Alpha und seine Frau in Wölfe, damit sie in beiden Formen in seinem Licht tanzen konnten.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich unsere Bevölkerung in vier Stämme und jeder Stamm in zwölf Rudel. Der Alpha-König herrschte über alle.
Der Mond wählt aus, wer in die Rolle eines Alphas hineingeboren wird. Er sucht in unseren Seelen nach den Größten unter uns und verleiht die Gaben der Autorität, Führung, Loyalität und Weisheit.“
Ich beobachte Alex, während mein Onkel spricht. Sein Kiefer zuckt, als er von Alphas hört. Ich frage mich, ob er ein Alpha sein wird wie sein Vater. Dass sein Vater einer ist, bedeutet nicht, dass er es auch sein wird.
Plötzlich überkommt mich eine Welle der Erkenntnis und mit ihr eine Welle der Übelkeit.
Ich spüre keine Alpha-Aura von Alex ausgehen. Es ist etwas da, aber es ist nicht so klar wie bei seinem Vater. Entweder ist er kein Alpha, sondern ein Mensch, oder er hat sich noch nicht verwandelt.
Meine Hand zittert nervös. Ich kann es nicht erklären, aber ich kann seinen Wolf spüren. Seine Unterlagen wurden nicht geändert. Morgen ist sein zwanzigster Geburtstag, sein echter. Er hat sich noch nicht verwandelt.
Falls der Widerstand nicht über eine andere Art von Silbertraining verfügt, die sich von meiner unterscheidet, dann wird er auf das Silber reagieren.
Ich starre ihn an, das Entsetzen steht mir ins Gesicht geschrieben. Ich höre meinem Onkel überhaupt nicht zu. Ich kann ihn zwar reden hören, doch seine Worte werden durch das Pochen meines Pulses in meinen Ohren verzerrt. Ich bete im Stillen zum Mond.
Bitte, lass mich falsch liegen. Lass ihn menschlich sein.
Ich schaue auf die Uhr an der Wand. Der Wächter kommt um acht Uhr. Es ist schon nach sieben. Ich schaue mich im Raum um und frage mich, ob alle hören können, wie mein Herz in meiner Brust pocht.
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft nimmt Alex Augenkontakt mit mir auf. Sein Gesicht ist ernst, sogar kalt, aber seine Augen verraten ihn.
Er ist nervös. Er weiß, dass er ein Wolf ist. Er weiß, was auf ihn zukommt. Wir starren uns gegenseitig an, ohne zu sprechen oder uns zu bewegen. Wir brauchen nichts zu sagen. Wir verstehen einander.
Er nickt leicht mit dem Kopf und aus irgendeinem Grund fühle ich mich durch diese Geste getröstet.
Ich frage mich, ob er von meinen gefälschten Unterlagen und von meinem Training weiß? Schuldgefühle überkommen mich.
Ich weiß nicht, wie meine Tante die Wölfe auswählt, die diese Chance bekommen, aber ich bin mir sicher, dass bei meinem Glück auch ein bisschen Vetternwirtschaft im Spiel war.
Ich bin in keiner Hinsicht besonders, nicht außergewöhnlich klug, stark oder schnell. Es gäbe für niemanden einen Grund, ausgerechnet mich dafür auszuwählen.
„Alex Killion und Noelle Seneca, meldet euch jetzt beim Wachhäuschen. Alex Killion und Noelle Seneca, sofort melden.“
Die Stimme aus dem Lautsprecher draußen lässt mein Blut gefrieren.
„Los, lasst sie nicht warten.“ Onkel James steht auf und packt mich sanft am Arm. Meine Tante zieht mich in eine feste Umarmung, bevor sie mir ein kleines Bündel überreicht. Meine gelbe Uniform.
„Gib das den Wächtern.“
Ohne ein Wort oder sichtbares Zögern geht Alex auf die Tür zu. Er bleibt stehen, sieht mich an und vergewissert sich schweigend, dass ich bereit bin, bevor er die Tür öffnet.
Ich trete hinaus in die kühle Nachtluft und sehe überall Leute, die aus Fenstern und Türen schauen und auf der Straße stehen.
Alex manövriert sich schützend vor mich, als wir uns auf den Weg zu dem kleinen Häuschen machen, in dem ein Wächter wartet.
Nachdem wir den überfüllten Raum betreten haben, werden unsere Fingerabdrücke zur Identitätsbestätigung genommen. Ich sehe, dass ein großer schwarzer Transporter vor dem Häuschen vorfährt.
Mit einem stummen Nicken tritt mein Onkel zurück und lässt zu, dass die Wächter unsere Hände fesseln und an eine Kette binden, die am Boden des Transporters befestigt ist.
Mir wird schwindelig, als der Transporter durch die Straßen hinauf zum Schlossgelände fährt.
„Es wird alles gut, dir wird nichts geschehen“, sagt Alex wodurch mir erst klar wird, dass mein Atem unregelmäßig geht. Seine Stimme ist anders, als ich erwartet habe. Tief und rau, und doch so sanft. Er ist definitiv ein Alpha.
Der Transporter kommt an einem Sicherheitskontrollpunkt zum Stehen. Wir werden aus dem Transporter geholt, abgetastet und mit Metalldetektoren überprüft.
Der Vampirwächter, der mich abtastet, ist grob und schubst mich herum.
„Alle sauber“, sagt er und stößt mich Richtung Tor. „Los!“
Ich stolpere leicht, sodass Alex mich am Arm festhält.
„Mir geht es gut“, sage ich ihm schnell und versuche, ihn zu beruhigen.
Wir gehen durch einen riesigen steinernen Innenhof. Es ist dunkel im Schatten des Schlosses und ich mache mir gar nicht erst die Mühe, mich umzusehen.
Wölfe haben ein ausgezeichnetes Sehvermögen, aber Nachtsicht ist nur in Wolfsgestalt möglich. Wir gehen zu einer Tür in der Wand, die in einen dunklen, engen Flur führt.
Ich schreie auf, als ich etwas Kaltes an meinem Hals spüre. Ich stoße gegen die Wand und gerate in Panik.
„Beruhige dich, Noelle“
, ruft Alex, bevor ich in einen Raum geschoben werde. Das Licht in diesem Raum ist gedämpft und ich kann eine Metallstange sehen, die an der Schlinge um meinen Hals hängt. Eine Schlinge mit einer Stange dran, fantastisch.
Ich atme tief durch und merke, dass die Schlinge um meinen Hals ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut verursacht. Sie ist aus Silber.
Das ist die Prüfung.