G. L. Holliday
Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, wie ich jeden Tag zur Schule und zurück gelaufen war. Immer allein, und nie war etwas Schlimmes passiert.
Klar, im Frühling bin ich manchmal auf den Hosenboden gefallen, weil das Gras von den Sprinklern nass war. Die Leute lachten, aber das war's auch schon.
Dass mich jemand hätte entführen können, wäre mir vor Lexis Warnung nie in den Sinn gekommen.
Als ich nach meinem Hausschlüssel griff, wurde ich plötzlich nervös.
Ich schaute die Straße rauf und runter. Nichts Verdächtiges zu sehen. Keine komischen Typen in Schwarz oder versteckte Autos.
Ich holte tief Luft und ging hinein. Ich schloss ab und rüttelte zur Sicherheit nochmal an der Tür.
In meinem Zimmer zog ich mich um - bequeme Shorts und ein Tanktop. Die anderen Sachen legte ich zurück in die Schublade.
Klamotten, die ich nur sechs Stunden getragen hatte, mussten ja nicht gleich in die Wäsche. Das war gerade mal ein Viertel des Tages.
Unser Haus war etwas schicker als die meisten. Zwei Stockwerke, Keller, zwei Bäder.
Ich glaube, meine Eltern dachten, das schöne Haus würde die hohen Kosten wettmachen. Sie meinten wohl, sie könnten es schnell abbezahlen.
Aber dann kam ich zur Welt und die Kosten wurden zur Last. Sie mussten Kredite aufnehmen und Hypotheken.
Für meine Eltern war das Haus wie ein Klotz am Bein. Es erinnerte sie ständig daran, wie toll es aussah, aber viel zu teuer war.
An dem Tag konnte ich nicht zu Lex, weil meine Mutter meinte, sie müsse mit mir reden.
Für die meisten Kinder würde das heißen, dass es eine Belohnung für gute Noten und Benehmen gibt.
Bei mir bedeutete es wahrscheinlich, dass meine Mutter mir sagte, ich solle ausziehen oder dass sie und mein Vater sich trennen würden.
Als ich aus meinem Zimmer kam, hörte ich ein Geräusch von unten. Es klang, als würde jemand gegen Glas klopfen.
Ich holte einen Baseballschläger unter meinem Bett hervor. Den hatte ich mal von einem Baseballspieler mitgenommen, nachdem wir Schluss gemacht hatten.
Ganz leise schlich ich die Treppe runter und versuchte, keinen Mucks zu machen.
Je weiter ich kam, desto lauter wurden die Geräusche von draußen. Sie kamen vom Fenster der Hintertür. Ich folgte dem Geräusch durch die Küche, dann hörte es plötzlich auf.
Mein Herz raste und setzte dann kurz aus. Ich hielt die Luft an und mir wurde schwindelig.
Das Ding auf der anderen Seite der Tür fing an, an der Klinke zu rütteln. Ich holte mit den Armen aus, bereit zuzuschlagen, sobald sich die Tür öffnete.
Ich hatte nicht damit gerechnet, was da reinkam.
„Was ist denn mit dir los?“, schrie meine Mutter. Ich atmete wieder. Erleichtert ließ ich den Schläger sinken - es war ja nur meine Mutter.
„Tut mir leid, Mama, ich hatte nur Angst. Ich dachte, es wäre jemand anderes“, sagte ich. Kopfschüttelnd ging sie durchs Haus.
„Wer denn?“, fragte sie genervt.
„Keine Ahnung! Ein Creep oder jemand, der mir folgt... Oder ein Mörder“, sagte ich und dachte an Lexis Worte von vorhin.
Meine Mutter sah mich einen Moment böse an. Sie verdrehte die Augen und öffnete ihren versteckten Alkoholschrank.
Sie bückte sich und hielt dann inne, als wäre ihr was eingefallen.
„Ach ja, Taryn“, sagte meine Mutter und ich drehte mich zu ihr. „Dein Vater und ich gehen heute Abend aus.“ Ich starrte sie nur an.
„Warum?“, fragte ich neugierig. Es klang nach einem Date-Abend. Ich konnte mich nicht erinnern, wann meine Eltern zuletzt ein Date hatten.
„Keine Ahnung, dein Vater meinte, wir gehen feiern. Wahrscheinlich mein Jahr ohne Alkohol“, sagte sie. Sie zwinkerte mir zu und lachte ein bisschen.
Ich seufzte und ließ die Schultern hängen. Ich hatte gehofft, sie würden vielleicht was für mich machen. Mich überraschen oder wenigstens über meine Zukunft reden.
Ich fühlte mich ein bisschen egoistisch, weil ich wollte, dass meine Eltern stolz auf mich sind. Aber heute weiß ich, dass das normal war.
Auch wenn manche das vielleicht denken - ich hasste meine Mutter nicht. Aber sie war auch nicht gerade mein Lieblingsmensch. Sie hatte so eine Art, mich zu kontrollieren, die ich nicht mochte.
Wie das Zuzwinkern - das war ihre Art zu sagen, dass ihr Geheimnis sicher war und sie das wusste. Es war irgendwie fies.
„Wann geht ihr weg?“, fragte ich und überlegte, ob ich vielleicht zu Lexi schleichen und zurück sein könnte, bevor sie heimkamen.
„Papa meinte so gegen neun, wieso?“, sagte sie und holte eine Flasche Tequila raus.
„Naja, ich wollte nur wissen, ob ich vielleicht zu-“ Ich wurde unterbrochen.
„Nein!“, schrie sie und öffnete die Flasche. Ich stöhnte und ließ den Kopf hängen.
„Was soll ich denn dann machen? Kann wenigstens Lexi hier übernachten?“, fragte ich, genervt bei dem Gedanken, allein zu Hause zu hocken, während meine Eltern sich gegenseitig anlogen.
Wenn nicht mal Lexi da sein konnte, würde es eine lange Nacht werden.
„Nein, sie kann nicht übernachten“, sagte sie. Ich hörte, wie sie immer wütender wurde.
„Na gut“, sagte ich schließlich und gab auf. Es hatte keinen Sinn, mit meiner Mutter zu streiten. Entweder verliere ich oder will am Ende gar nicht mehr, was ich ursprünglich wollte.
Ich beschloss, wieder hoch in mein Zimmer zu gehen und schleifte den Schläger hinter mir her. Ich ließ ihn fallen, als ich zu meinem Bett ging und mich drauf plumpsen ließ.
Während ich an die Decke starrte, dachte ich über die letzten Jahre nach. Wie wenig ich für meine Klasse getan hatte, wie vergesslich ich war, wie unsichtbar ich war.
Nicht auf eine schlimme Art, fast sogar was Gutes. Ich wurde nicht gemobbt oder belästigt, nur von Lehrern angesprochen. Aber drei Jahre lang niemanden zum Reden zu haben, war irgendwie traurig.
Lexi lernte ich erst am Ende der Elften kennen, und das auch nur, weil sie in mich reingerannt war und sich schlecht fühlte. Dann kaufte sie mir einen Tee und wir quatschten darüber, was wir gerne machten.
Überraschenderweise hatten Lexi und ich viel gemeinsam. Wir mochten beide Zeichnen und Ausmalen und die gleiche Musik. Sie fand auch ein paar von meinen Klamotten cool und wir schauten beide vier Staffeln The Walking Dead am Stück.
Ich dachte daran, wie wir zusammen auf einer Walker Stalker Convention waren. Sie hatte ziemlich Schiss.
Ich sah immer Leute, die seit Kindertagen befreundet waren, und war neidisch. Aber dann traf ich Lexi und es fühlte sich an, als würde ich sie schon ewig kennen.
Ich muss beim Nachdenken eingenickt sein, denn als meine Mutter mich weckte, um zu sagen, dass sie ging, war es draußen dunkel. Sie hatte Glitzer-Make-up um die Augen und rötlich-violetten Lippenstift.
„Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass wir gehen, also steh auf.“ Die Logik meiner Mutter war manchmal echt seltsam. Ich setzte mich seufzend auf, als sie aus meinem Zimmer ging.
Sie trug ein kurzes Kleid; die Farbe oder der Stil spielten keine Rolle. Ich sah nur meine fünfzigjährige Mutter in einem Kleid für junge Frauen.
Ich ging runter in die Küche, um was zu trinken. Nachdem ich eine Weile in den Kühlschrank gestarrt hatte, goss ich mir Ginger Ale ein.
Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch, während ich dem Klimpern von Schlüsseln und eiligen Schritten lauschte.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Mutter den Raum betrat und vor mir herging. Sie nahm eine dünne, schwarze Fernbedienung vom Couchtisch und schaltete den Fernseher ein.
„Schau bisschen fern und bestell dir was zu essen. Wir sind gegen elf zurück“, sagte meine Mutter und ich sah auf die Uhr; es war fast halb acht.
Ich hab nie kapiert, warum sie sagte, sie würden um neun ausgehen, aber um halb acht losfuhren, bis jetzt.
„Mach niemandem auf, lad niemanden ein und mach keine Sauerei.“ Das Letzte klang eher wie eine Drohung als eine Anweisung.
Sie ging weg und rief nach meinem Vater, der im Türrahmen der Hintertür zur Küche stand. Er rauchte gerade eine Zigarette zu Ende und machte sie aus. Er kam rein und gab mir einen Kuss auf den Kopf.
„Bleib nicht für uns auf, Schätzchen“, sagte er lächelnd. Das Lächeln war aber irgendwie komisch; es war traurig, fast schmerzhaft. Er sah aus, als hätte er gerade erfahren, dass sein Kindheitsfreund gestorben war.
Ich stand auf, um ihnen beim Gehen zuzusehen, und mein Vater umarmte mich. Ich erwiderte die Umarmung, aber es fühlte sich ungewöhnlich an. Er drückte mich fester und länger als sonst.
Normalerweise hätte ich kein Problem damit gehabt, wenn mein Vater mich umarmen wollte. Aber an dem Abend benahm er sich irgendwie seltsam.
Mein Vater küsste nochmal meinen Kopf und führte meine Mutter aus dem Haus. Ich schloss hinter ihnen ab und sah zu, wie sie wegfuhren. Dann setzte ich mich wieder auf die Couch.
Ich schrieb gerade Lexi, als ich den Namen meiner Stadt aus dem Fernseher hörte und aufblickte.
Eine Nachrichtensprecherin mit blonden Haaren sprach in die Kamera und stand im Dunkeln.
„Wenn Sie in einer dieser Städte leben, seien Sie vorsichtig, besonders nachts. Achten Sie immer auf verdächtig aussehende Fahrzeuge und wenn Sie diesen Mann sehen, rufen Sie sofort die Polizei.
Versuchen Sie nicht, diese gefährliche Person selbst zu fangen“, sagte sie. Ein Bild erschien neben ihrem Gesicht.
Es war ein unscharfes Foto von einem Mann, der nur ein paar Jahre älter aussah als ich. Es sah aus, als wäre es von einer der Kameras eines Opfers um sein Haus herum aufgenommen worden.
Der Typ auf meinem Bildschirm hatte ein hübsches Gesicht mit tiefen haselnussbraunen Augen.