Sechs Kindheitsfreunde betreten den Wald, aber nur fünf kommen wieder heraus. Das Verschwinden von Erin Lockwood ist in Geheimnisse gehüllt und wirft einen dunklen Schatten über die einst sichere Kleinstadt Braidwood. Die einzigen, die die Wahrheit kennen, sind an Eide gebunden. Sie dürfen die zwei Gesetze nicht brechen. Sieben Jahre lang zerriss sie der Schrecken dessen, was sie sahen und verursachten. Sie versuchten, ein normales Leben zu führen, versuchten zu vergessen. Doch die Sünden ihrer Vergangenheit haben sie eingeholt. Die Gruppe ist gezwungen, sich wieder zu vereinen, nachdem einer von ihnen spurlos an demselben Ort verschwindet, an dem Erin verloren ging: im Wald. Es ist kein Zufall. Es ist eine Vorladung.
Altersfreigabe: 18+.
»Sie wissen nichts«, denkt sie, »und sie werden es nie erfahren«.
Mia Trinket sitzt nervös auf einem Stuhl im Polizeirevier von Braidwood. Sie versucht, nicht zu zittern, aber ihre Sorge ist zu groß.
Angst kommt von innen, nicht von außen.
Es ist nicht ihr erster Besuch auf einer Polizeiwache, und sie weiß, dass es nicht ihr letzter sein wird.
Mias Herz ist schwer. Die Tür geht hinter ihr auf, aber sie schaut nicht hoch.
Kommissar Russo kommt mit schweren Schritten herein. Er setzt sich an den Schreibtisch.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Wie geht es Ihnen, Frau Trinket?«
Er nimmt einen Block und einen Stift.
Er sieht sie genau an.
»Wie geht es Ihnen, Frau Trinket?«, fragt er nochmal, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Ganz okay, nur nervös.« In Wahrheit hat sie große Angst. Ihr Mund ist trocken. »Ich komme zu spät zum ersten Schultag. Kein guter Anfang.«
Kommissar Russo nickt verständnisvoll. »Sie sind in der Abschlussklasse, oder? Ihr letztes Jahr an der Braidwood High?«, fragt er mit dem Stift in der Hand.
»Ja.«
»Kennen Sie Keila Venus?«
Sie sieht verwirrt aus und nickt.
»Sind Sie befreundet?«
Mia zögert. »Wir... waren es mal.«
Kommissar Russo setzt sich auf und schaut sie genau an. »Alle Schüler gehen heute wieder zur Schule. Außer einer. Keila Venus.«
Mia wird plötzlich ganz kalt.
Der Kommissar merkt, wie sie blass wird.
»Wussten Sie das nicht? Dass Keila am Ende der Sommerferien verschwunden ist und keiner sie seitdem gesehen hat?«
Er gibt ihr Zeit, das zu verstehen.
Mia erstarrt. Sie ist verwirrt. Geschockt, aber irgendwie nicht überrascht.
»Sie sagten, Sie waren mit Keila Venus befreundet? Hatten Sie Streit?«
Mias Augen werden groß und sie schaut langsam zu ihm hoch.
»Nein. Wir - wir sind einfach auseinander gewachsen«, sagt sie stockend. »Wir haben seit Jahren nicht mehr zusammen abgehangen oder geredet.«
Kommissar Russo nickt und schreibt etwas auf. Mia kann nicht sehen, was er schreibt.
»Interessant, denn ihre Mutter hat das Gleiche gesagt.
»Aber als die Polizei ihr Zimmer durchsuchte, fanden sie ein ganzes Fotoalbum und Scrapbooks von euch. Bilder von Ihnen, Keila Venus, Aries Black, Opal Chiang, Akin Ballo und Erin Lockwood. Zusammen. Aber viel jünger.«
Die Angst in ihr fühlt sich an wie Gift, das nicht weggeht.
»Wir alle haben unsere Vergangenheit, Herr Kommissar, aber - äh.« Sie sucht nach Worten. »Wie ist sie verschwunden? Wer hat sie zuletzt gesehen? Und wo wurde sie zuletzt gesehen?«
Kommissar Russo hebt eine Augenbraue wegen ihrer vielen Fragen.
»Ihre Mutter sagt, sie sei nachts plötzlich weg. Sie dachte, Keila wäre joggen. Aber als sie aufwachte, war Keila nicht zurück und ihre Laufsachen lagen noch im Zimmer.«
Mia ballt die Hände zu Fäusten, um nicht zu zittern.
»Wenn es alle wissen, wird die ganze Stadt mit Polizeihunden und allen Polizisten die Wälder durchsuchen-«
»Sie ist nicht dort«, unterbricht Mia.
Kommissar Russo lehnt sich vor, legt den Stift weg und faltet die Hände. Er schaut sie neugierig an.
»Hören Sie«, fängt sie an. »Keila und ich kannten uns als Kinder, ja. Aber in sieben Jahren kann sich viel ändern, auch wenn eines gleich bleibt, und das ist Keilas Angst vor den Wäldern.
»Wenn jemand sie entführt hat, suchen Sie ruhig dort. Aber wenn Keila von selbst weggelaufen ist, würde sie lieber einen Tag an einem schlimmen Ort verbringen als eine Minute in diesen Wäldern.«
Kommissar Russos Gesicht ist schwer zu lesen.
Ohne wegzuschauen, macht er eine Schublade auf, nimmt eine Akte raus und legt sie vor sich hin.
Er macht die Schublade zu und legt die Fingerspitzen auf die Akte.
»Reden Sie von dem, was euch vor sieben Jahren passiert ist? Als auch Erin Lockwood in den Wäldern verschwand?«
Seine Augen schauen misstrauisch.
»Nur dass es damals Zeugen gab. Sie, Keila Venus, Aries Black, Opal Chiang und Akin Ballo.
»Wenn ich es nicht besser wüsste... würde ich ein... Muster sehen«, sagt er und zeigt seinen Verdacht.
Mia versucht, ruhig zu bleiben, aber ihr Kiefer wird hart. »Was? Glauben Sie etwa, dass wir damit was zu tun hatten?«
»Hatten Sie?«
Wütend greift Mia in ihr Shirt und zieht ihre goldene Kette raus.
Sie zeigt den Anhänger - eine Hälfte eines Herzens mit gezacktem Rand. Das Wort »Best« steht auf ihrer Hälfte.
»Wir waren Kinder«. Erin Lockwood war eine meiner besten Freundinnen und Keila gehörte dazu. Wir würden uns nie gegenseitig wehtun. Ich gebe zu...«, Mia stockt und zwingt sich weiterzureden.
»Nach dem, was mit Erin passiert ist... haben wir alle aufgehört, Freunde zu sein. Nicht wegen uns, sondern weil wir nicht wussten, wie wir damit umgehen sollten-« Sie hält an und überlegt genau, was sie als Nächstes sagen soll.
»Ich weiß nicht, was mit Keila passiert ist, aber ich möchte alles tun, um Ihnen bei der Suche zu helfen.« Mia reibt mit dem Daumen über die abgenutzten Kanten des Anhängers. »Alles...«
Kommissar Russo schaut sie genau an und nickt.
»Sie können jetzt gehen, Frau Trinket. Die Schule weiß schon Bescheid und wird bei der Versammlung allen von Keilas Verschwinden erzählen.«
Mia nickt und nimmt ihren Rucksack. Sie steht auf und hängt ihn über die Schulter. Sie dreht sich um und geht schnell zur Tür.
An der Tür schaut sie zurück.
Kommissar Russo macht die Akte auf und fängt an zu lesen.
Sie geht und lässt die Tür in ihrer Eile weit offen.
Mia macht ein paar Schritte den dunklen Flur entlang. Plötzlich fühlt sie sich schuldig und kann kaum atmen. Sie stützt sich mit einer Hand an der Wand ab.
Kommissar Russo beobachtet Mia von hinten, aus der Tür heraus.
Mia lässt den Kopf für einen Moment hängen und atmet schwer, dann hebt sie ihn wieder. Sie nimmt sich Zeit, um ruhig zu werden und nicht in Panik zu geraten.
Unsicher geht sie weiter zur Treppe und an den Polizisten vorbei, um die Wache zu verlassen.
Als Russo in sein Büro zurückgeht, fängt er an, eine Theorie zu entwickeln. Er setzt sich an seinen Schreibtisch und beginnt, alle Infos zum Fall Erin Lockwood durchzusehen.
***
»Damals wusste ich noch nicht, wie ein Teenager-Mädchen meine ganze Welt verändern würde. Ich habe in vielen Fällen Gefahren getrotzt, aber keine wie im Fall Erin Lockwood.«
»Keine größere Gefahr als sie, als sie alle.«
»Ich dachte, der Job würde schwierig, aber einfach zu verstehen sein; die vermissten Mädchen finden und den Täter fassen.«
»Doch was dann geschah, brachte mich fast um den Verstand und stürzte Braidwood ins Chaos.«
»Keilas Verschwinden war wie ein Ruf des Todes.«
»Erins Verschwinden war der wahre Beginn der Zerstörung.«
VOR SIEBEN JAHREN
Der Tag, an dem Erin Lockwood verschwand
Der Mond sah aus wie ein silberner Geist, sein Licht fiel durch die Bäume und machte silbrige Flecken auf dem Boden, während sich die Zweige bewegten und ihr ein warmes Gefühl gaben.
Mia ging langsam. Der feuchte Waldboden quetschte sich zwischen ihren nackten Zehen, als sie barfuß lief.
Keila zitterte neben ihr. Ihr rotes Sommerkleid war ganz dreckig.
Akins lange, dünne Beine bebten, und er hielt sich die Seite.
Opals Arm lag um Aries' Schultern und sein Arm um ihre Taille, während er ihr half, auf einem Bein zu hüpfen.
Sie alle kamen aus dem Wald, verletzt, kaputt und sehr verängstigt.
Bald hörten sie nur noch laute Sirenen in der Nacht und quietschende Reifen, als vier Polizeiautos kamen.
Acht Polizisten stiegen aus ihren Autos und gingen vorsichtig, aber schnell zu den verstörten Kindern.
Helles blaues Licht blendete Mia, als eine Polizistin auf sie zukam. Mia bewegte sich nicht - sie war wie eingefroren - gefangen in einem schrecklichen Traum.
Immer wieder sah sie das grausame Bild von Erins totem Körper vor sich, mit leeren, toten Augen.
»Hallo, ich bin Polizistin.« Die Frau zeigte auf den Stern an ihrer Brust. »Ich tue dir nichts. Ich bin hier, um zu helfen.«
Mia stand still da, ganz gefühllos.
Die Polizistin stellte sich direkt vor sie und beugte sich runter. Sie hob die Hände, um Mias kleinen Körper zu halten.
Aber als sie die Haut des Mädchens berührte, zuckte Mia zurück, als hätte sie sich verbrannt, und keuchte, als hätte man sie geschlagen. Ihre Augen flackerten wild umher, als ihr endlich klar wurde, wie schrecklich alles war.
»Jim!«, rief ein Polizist. Er legte seine Hand auf Akins schmale Schulter.
»Der hier sagt, ihre andere Freundin sei noch im Wald«, sagte er zu einem Kollegen, der eine weinende Opal zu einem Polizeiauto trug.
»Carter, John. Geht mit Jim und findet das andere Kind«, befahl er. Die drei Polizisten rannten in den Wald und verschwanden im Dunkeln, während die anderen vier sich um die fünf Kinder kümmerten.
»Komm, wir bringen dich zum Auto, wärmen dich auf«, sagte die Polizistin sanft und rieb Mias Arme, um sie zu wärmen. »Und dann fahren wir dich zur Wache. Deine Eltern machen sich große Sorgen.«
Sie legte ihre Hand hinter die Schulter des Mädchens, um sie vorsichtig zu führen.
Mia schüttelte den Kopf und ging zurück.
»N-nein. I-ich muss zurück! Sie braucht mich!«, schrie Mia laut und drehte sich um, um zurück in den Wald zu rennen.
Die Polizistin reagierte blitzschnell und schlang ihre Arme um den kleinen Körper.
Mia wehrte sich und schrie. »Sie braucht mich! Sie... braucht mich.«
Ihre Schreie wurden leiser und gingen in leises Weinen über, als sie den Kopf senkte. Tränen füllten ihre Augen und liefen über ihre schmutzigen Wangen, hinterließen saubere Spuren.
Die Polizistin ging einen Schritt zurück, hielt aber Mias Arme fest und drehte sie zu sich. Das Mädchen hielt den Kopf noch immer gesenkt, und sie versuchte, Mias Blick zu fangen.
»Was meinst du damit, Schätzchen? Was ist mit ihr passiert?«
Mia hob langsam den Kopf, und die Polizistin sah in ihre verängstigten Augen.
»Es - ich habe sie getötet - äh, ähm«, stotterte sie.
Rebeccas Augen wurden groß, voller Angst ohne Namen.
Mit ernster Stimme sagte sie: »Hey, ich brauche deine volle Aufmerksamkeit. Wie heißt du?«, fragte sie.
»Mia.«
Die Polizistin nickte und lächelte ermutigend.
»Sehr gut, Mia, wirklich gut. Ich heiße Rebecca.« Sie klopfte sich auf die Brust und legte ihre Hand wieder auf Mias Schulter.
»Ich muss dich um einen kleinen Gefallen bitten. Kannst du das für mich tun?«
Mias zitternder Kopf nickte.
»Kannst du mir sagen, was hier passiert ist?«, fragte sie und schaute zum Wald. Ihr Blick ging zurück zu Mias Gesicht, das sehr traurig aussah.
Mia hob eine Hand und hielt den Anhänger ihrer Kette fest.
»Mia.« Scharf.
»Was ist passiert?«, fragte sie nachdrücklich.
Mia gab nach, und ihre Hand fiel kraftlos runter.
»Ich habe sie getötet. Ich wollte es nicht«, schluchzte sie leise, wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich hatte keine Wahl.«
Rebeccas Mund ging weit auf.
»Ich habe sie getötet.«