Am Rande der Vernunft - Buchumschlag

Am Rande der Vernunft

Michelle Torlot

Kapitel 3

DAMON

Ich starre auf die Liste vor mir, mit all den Wölfen der diesjährigen Tribute. Jedes Jahr schickt mir jedes der schwächeren Rudel mindestens ein neues Mitglied, im Austausch dafür, dass unsere Abkommen aufrechterhalten werden.

In Wahrheit benötige ich keine weiteren Krieger. Inzwischen muss ich nicht einmal mehr um Tribute bitten. Die erbärmlichen Alphas der angrenzenden Rudel schicken sie einfach so. Wenn sie sich gegen mich auflehnen und Nein sagen würden, würde ich sie mehr respektieren, aber das tun sie nicht.

Außerdem sind die meisten Wölfe, die ankommen, begierig darauf, hier zu sein. Sie wissen, dass mein Kriegertraining nur von dem der Königlichen Garde übertroffen wird. Die meisten Rudel auf der aktuellen Tributliste trainieren ihre Krieger bereits gut, sowohl Frauen als auch Männer, doch beim letzten Namen runzle ich die Stirn.

Wir haben eine Wölfin aus dem Craven-Moon-Rudel.

Der Name „Craven Moon“, also „Schwacher Mond“ passt gut zu diesem Rudel, zumindest mit dem aktuellen Alpha an der Spitze. Alpha Conrad Stones Rudel ist wahrscheinlich das schwächste – nicht zuletzt, weil sie als einziges Rudel ihre Wolfsfrauen nicht trainieren. Warum schickt Stone mir also eine Wölfin?

Ich weise niemals eine Wolfsfrau ab. Manchmal, mit der richtigen Führung, kann eine Frau genauso stark sein wie ein männlicher Wolf oder sogar stärker. Aber Stone hält seine Frauen gerne schwach und unterwürfig.

Ich blicke von der Liste auf, als ich mein Handy piepen höre. Eine SMS von meinem Beta, Joshua.

Joshua6 Tribute eingesammelt. 1 könnte ein Problem sein. Wir sind jetzt auf dem Rückweg.

Ich seufze. Es braucht keinen Einstein, um zu erraten, wer das Problem sein wird. Ich starre auf den Namen auf dem Blatt. Ember James. Ich frage mich, was sie getan hat. Conrad Stone hat mir noch nie einen weiblichen Tribut geschickt, und ich bin mir sicher, dass es etwas Extremes gebraucht hat, um ihn dazu zu bringen, seine eigene Regel zu brechen.

Bis die Tribute ankommen, kann ich nichts unternehmen – was noch Stunden dauern dürfte. Ich verbringe den Rest des Nachmittags damit, meine Wölfe beim Training zu beobachten. Ich mache das gerne, wenn ich Zeit habe, denn sie bemühen sich besonders, mich zu beeindrucken, wenn sie wissen, dass ich zuschaue.

„Du machst Fortschritte“, sage ich zu einem der Welpen, einem Winzling namens Billy, von dem ich weiß, dass er hart daran arbeitet, mit seinen Wurfgeschwistern mitzuhalten. Er strahlt, und stürzt sich mit neuer Entschlossenheit in die Übung.

„Pass auf“, sage ich scharf, als eine vielversprechende junge Wolfsfrau während eines Kampftrainings schlampig wird und ihren Gegner verletzt.

„Entschuldigung, Alpha“, sagt sie beschämt und reicht ihrem Rudelgefährten die Hand, um ihm aufzuhelfen. Meistens reicht ein Wort der Zurechtweisung, um solche Vergehen zu korrigieren. Alle meine Wölfe kennen die Strafe für Ungehorsam.

Nach ein paar Stunden verwandle ich mich und gehe eine Runde durch das weite Gebiet unseres Rudels, um meinem Wolf freien Lauf zu lassen, während der Wind unser Fell zerzaust.

Meinen Wolf jeden Tag herauszulassen, ist sehr wichtig, um meine menschlichen und tierischen Seiten in Balance zu halten; immer wenn ich merke, dass ich gereizt oder unruhig bin, entschuldige ich mich, gehe eine Runde laufen und fühle mich danach besser.

Jedes Mitglied meines Rudels hat strikte Anweisung, dasselbe zu tun.

Ich habe fast die Grenze unseres Territoriums erreicht, als Joshua mich über das Rudel-Netzwerk kontaktiert. „Wir werden in etwa einer Stunde ankommen.

Ich bestätige und mache mich auf den Rückweg zum Rudelhaus, um zu duschen und mich umzuziehen. Ich empfange alle neuen Tribute stets persönlich, wenn sie ankommen, und ich habe das Gefühl, dass das heute besonders wichtig sein wird.

Als der Van ankommt, stehe ich oben auf den Stufen des Rudelhauses, in Kampfhosen und schweren schwarzen Stiefeln. Meine Brust ist nackt, zeigt meine Tattoos und Narben.

Ich trage meine Narben mit Stolz. Sie zeigen, dass ich im Gegensatz zu manch anderen Alphas gerne an der Seite meiner Krieger kämpfe. Ein guter Alpha führt immer von vorne; diejenigen, die das nicht tun, sind Feiglinge.

Ich verschränke die Arme vor meiner Brust, während mein Beta aus dem Bus steigt. Die Tribute folgen dicht dahinter. „Präsentiert euch eurem neuen Alpha“, befiehlt Joshua.

Sie stellen sich vor mir auf. Drei männliche und drei weibliche. Ich sehe sofort, welche aus dem Craven-Moon-Rudel stammt.

Fünf von ihnen stehen aufrecht – sie schauen mich an, vermeiden aber Augenkontakt. Stolz, aber nicht herausfordernd. Sowohl männliche als auch weibliche haben durchtrainierte Muskeln. Nicht auf dem Niveau meiner eigenen Krieger, aber das wird noch kommen.

Aber die letzte Wölfin, von der ich vermute, dass es sich um Ember James handelt, ist winzig im Vergleich zu den anderen. Sie soll zwanzig Jahre alt sein, sieht aber eher wie ein jugendliches Mädchen aus. Mit hängenden Schultern starrt sie auf den Boden. Sie besteht fast nur aus Haut und Knochen, kaum Muskeln. Das Kleid, das sie trägt, kann nicht die Tatsache, dass sie halb verhungert ist, nicht verbergen. Ihr blondes Haar hängt schlaff über ihre Schultern. Sie wirkt gebrochen.

Diese Wölfin ist keine Unruhestifterin. Es sieht nicht so aus, als hätte sie auch nur einen rebellischen Knochen in ihrem Körper. Aber sie ist auch keine Kriegerin. Einer meiner jüngsten Welpen könnte sie leicht besiegen. Der Geruch von Angst strömt wellenartig von ihr aus.

Ich scanne die Tribute und bin bereit für die nächste Phase meiner Inspektion. Ich kann keine Ausnahmen machen. Wölfe, die meinem Rudel beitreten, müssen mutig, stark und furchtlos sein. „Ausziehen und verwandeln“, befehle ich.

Erst dann schaut Ember James auf, mit sichtbar schockiertem Gesichtsausdruck. Ihre Augen haben einen atemberaubenden Blauton, wie das Meer. Wenn sie ein bisschen mehr Wert auf ihr Äußeres legen würde, wäre sie sehr schön, selbst bei ihrer winzigen Statur.

Mir gefällt nicht, dass sie von meinem Befehl überrascht ist. Alle Alphas meiner benachbarten Rudel wissen, was ich erwarte, und sollten ihre Tribute entsprechend informieren.

Es scheint, dass Embers Alpha in dieser Pflicht nachlässig war. Ich sollte das erwarten dürfen, besonders wenn er sie loswerden will.

.

Die anderen Tribute ziehen sich schnell aus und beginnen, sich zu verwandeln. Ich sehe an ihren Augen, dass ihre menschliche Seite selbst in Wolfsgestalt noch einen Teil der Kontrolle behält – ein Zeichen dafür, dass sie ihre Wölfe regelmäßig freilassen und ein gutes Gleichgewicht gefunden haben. Wenn ein Wolf die volle Kontrolle übernimmt, werden die Augen tiefschwarz. Doch bei all meinen neuen Rekruten bleiben die Augen in ihrer ursprünglichen Farbe – vielleicht ein oder zwei Nuancen dunkler, selbst während ihre Körper sich in riesige, geschmeidige Wölfe verwandeln.

Während die anderen fünf sich bereits verwandelt haben, hat die kleine Frau gerade erst ihre Kleidung abgestreift. Ich seufze und starre sie an, um meine Ungeduld zu demonstrieren.

Als sie schließlich anfängt, sich zu verwandeln, ist das schmerzhaft mitanzusehen. Die Verwandlung ist nicht flüssig; Knochen knacken und formen sich langsam neu. Das ist bemerkenswert für eine Zwanzigjährige; normalerweise haben wir nur bei den ersten paar Malen Schwierigkeiten, uns zu verwandeln.

Es scheint, dass Ember James sich seit ihrer allerersten Transformation kaum verwandelt hat. Ich nehme an, das erklärt auch ihre Zurückhaltung, ihre Kleidung vor den anderen abzulegen.

Sie wimmert vor Schmerz, als ihr Körper sich endlich in die Wolfsform fügt. Dann kann ich nur noch starren, ein wenig schockiert.

Ihre Wölfin ist klein – größer als Ember in menschlicher Form natürlich, aber immer noch kaum größer als ein unterernährter deutscher Schäferhund. Ihr honigfarbenes Fell ist stumpf und leblos, ein Zeichen von mangelnder Gesundheit oder schlechter Ernährung.

Ihre Wölfin hebt den Kopf und starrt mir direkt in die Augen. Eine Herausforderung. Ich spüre, wie mein eigener Wolf instinktiv reagiert und sich in mir sträubt.

„Ember James, kontrolliere deine Wölfin“, knurre ich.

Aber die Augen ihrer Wölfin sind pechschwarz. Keinerlei Anzeichen von Ember James’ leuchtendem Blau.

Sie öffnet das Maul und zieht die Oberlippe zu einem Knurren zurück. Fordert dieser Köter mich wirklich heraus? Meine Knochen richten sich neu aus, während ich mich verwandle. Es dauert lediglich Sekunden. Ärgerlicherweise zerreißen meine Kleider, aber ich muss mich jetzt mit erst mal mit dieser Sache hier auseinandersetzen.

Mein Wolf ist etwa viermal so groß wie der kleine Winzling vor mir, aber das hindert sie nicht daran, ihre Zähne zu fletschen und mich anzuknurren. Wenn es nicht so respektlos wäre, würde ich es amüsant finden.

Mein Wolf stürmt vorwärts, und ich lasse ihn gewähren. Normalerweise würde er dem Herausforderer die Kehle aufreißen, aber das tut er nicht.

Stattdessen packt er die kleine Wölfin am Nacken und schüttelt sie, wie eine Mutterwölfin es tut, wenn sie ihren Welpen Respekt beibringt. Dann wirft er sie zu Boden, wo sie mit einem dumpfen Aufprall landet.

Holt ein Silberhalsband und fesselt diesen Köter“, knurre ich durch die Gedankenverbindung, und zwei meiner erfahrenen Krieger kommen mit dem Halsband und einer Kette angerannt, um die Wölfin zu fesseln und zu unterwerfen, bevor sie aufstehen oder weiter reagieren kann.

Ich verwandle mich zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mehr darüber verärgert bin, dass der Köter es gewagt hat, mich herauszufordern, oder dass mein Wolf beschlossen hat, sie am Leben zu lassen. Ich starre auf die restlichen Tribute, die noch in ihrer Wolfsgestalt sind und ihre Nacken zur Unterwerfung entblößen. „Verwandelt euch“, befehle ich.

Sie verwandeln sich alle flüssig zurück in ihre menschliche Form und kleiden sich an.

„Mein Gamma wird euch zu euren Zimmern bringen, dann könnt ihr in den Speisesaal gehen und essen.“ Ich nicke den Kriegern zu. „Kettet die Unruhestifterin an. Ich entscheide morgen, was mit ihr geschehen soll“, knurre ich.

Ich greife nach einer Shorts aus dem Fach am Eingang. Ich sorge immer dafür, ein paar Kleidungsstücke für genau diesen Fall dort bereitzuhalten.

Joshua kommt an meine Seite gerannt. „Hältst du das für klug?“, fragt er und blickt zurück, wo meine Krieger den Köter zum Strafpfahl schleppen.

Ich starre ihn an. „Stellst du mich infrage, Beta?“ Ich spreche Joshua nie auf diese Weise an, es sei denn, ich bin wütend, aber momentan bin ich mehr als wütend.

Joshua präsentiert mir schnell seinen Hals. „Nein, Alpha, es ist nur so, dass sie nicht gegessen hat, seit wir sie abgeholt haben. Ich bin mir nicht sicher, wann sie das letzte Mal gegessen hat.“

Ich presse die Kiefer zusammen. Das sollte nicht mein Problem sein. Ember James sollte nicht mein Problem sein, aber bis ich mit ihrem Alpha gesprochen und ihre Rückkehr arrangiert habe, ist sie es.

Da mein Wolf nicht nach ihrem Blut verlangt, muss ich etwas anderes tun.

„Werft ihr ein Stück Fleisch zu. Sie bleibt dort, bis ich mit ihrem Alpha gesprochen habe“, knurre ich, bevor ich in das Rudelhaus stürme.

EMBER

Das Silberhalsband brennt heftig an der Stelle, wo es sich in meinen Hals gräbt. Da ist auch eine Kette, die mich an einem Pfahl ein paar Meter vom Eingang des Rudelhauses festhält, aber auch ohne Kette glaube ich nicht, dass ich mich bewegen könnte.

Ich fühle mich taub. Gelähmt.

Ein Silberhalsband schwächt den sekundären Wirt – in diesem Fall mich. Wäre ich in menschlicher Gestalt, würde ich den Kontakt zu meinem Wolf verlieren.

Es ist ein schreckliches Gefühl, so schwach zu sein. Ich bin jetzt ein Gefangener im Körper meiner Wölfin. Selbst wenn sie die Kontrolle loslässt, werde ich mich nicht befreien können. Vielleicht bin ich für den Rest meines Lebens in dieser Gestalt gefangen.

Vielleicht ist es meine eigene Schuld, weil ich sie nicht öfter herausgelassen habe.

Meine Wölfin schläft nicht ein, auch wenn die anderen Tribute hineingehen und uns in der Dunkelheit und Stille zurücklassen. Daher schlafe ich auch nicht. Wir sind eins, auch wenn sie die Kontrolle hat.

Unser Atem ist schwerfällig. Jeder Atemzug tut weh. Ich fürchte, etwas ist gebrochen, als wir auf dem Boden aufgekommen sind. Wir können uns auch nicht selbst heilen, wegen des Silberhalsbands.

Meine Wölfin schaut auf und wimmert, als sie jemanden näherkommen hört. Sie dachte, wir wären jetzt tot, niedergeschlagen von dem Alpha, den sie lebensmüde herausgefordert hat.

Stattdessen fühlen wir nur eine Welt voller Schmerz. Sie möchte mir die Kontrolle zurückgeben, aber sie kann nicht.

Ich bin überrascht, als ich Crystal sehe, die sich nähert. Ich hätte nicht gedacht, dass sie jetzt etwas mit uns zu tun haben möchte. Als sie sich vor uns hinhockt, sehe ich eine Schüssel mit Fleisch in ihrer Hand.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, flüstert sie und seufzt dann. „Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, Ember, aber du steckst in einem Haufen Ärger. Ich weiß nicht, was Alpha Scopus tun wird. Du bekommst dieses Essen nur, weil Beta Vance für dich ein gutes Wort eingelegt hat.“

Wie auf Kommando höre ich die Stimme von Beta Vance in der Ferne. „Beeil dich, Crystal. Gib ihr einfach das Fleisch und komm wieder rein.“

Crystal kippt das Fleisch aus der Schüssel. Es landet auf dem Boden zwischen den Pfoten meiner Wölfin. „Versuch wenigstens, etwas zu essen“, schnaubt sie, bevor sie sich umdreht und zurück ins Haus rennt.

Meine Wölfin schnüffelt an dem Fleisch, bewegt dann leicht den Kopf davon weg. Ich weiß, dass wir essen müssen, aber der Hunger in unserem Bauch ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den wir durch die Verletzungen erlitten haben.

Vielleicht ist das die Art und Weise, wie Alpha Stone mit Aufruhr umgeht. Vielleicht werden wir hier gelassen, um zu sterben. Vielleicht ist das der einzige Weg, um den Schmerz zu lindern, den wir beide fühlen.

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