Vor dem Alpha versteckt - Buchumschlag

Vor dem Alpha versteckt

Katlego Moncho

Der nächste Sturm zieht auf

JUNIPER

„Warte! Können wir vielleicht erst hierüber reden?“ Meine Stimme quiekte, und das Herz schlug mir bis zum Hals.

„Über was?“ Fragend hob Royce eine Augenbraue.

„Weißt du, es ist so: Ich kenne dich ja kaum. Vielleicht sollten wir uns erst mal besser kennenlernen?“

„Klar, deswegen sind wir ja hier. Wie sollen wir uns sonst besser kennenlernen?“

Mir klappte die Kinnlade herunter.

War das jetzt die neue Form des Kennenlernens? Hatte ich zu viel Zeit allein mit meiner Großmutter verbracht, dass das an mir vorbeigegangen war?

Ich spürte, wie meine Wangen ganz heiß wurden, während ich Royce anstarrte.

„Juniper?“ Er klang besorgt. „Was ist denn los?“

„Na ja, ich hab noch nie …“, stammelte ich und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Nervös malte ich mit dem Finger Kreise aufs Bettlaken und starrte auf den Dielenboden. „Ich hab das noch nie gemacht.“

Stille.

Bedeutungsvolles Schweigen.

Als ich mich schließlich traute, zu Royce hochzuschauen, sah ich, dass er die Augen weit aufgerissen hatte. Er wirkte völlig geschockt.

„Royce?“

Meine Stimme löste ihn offensichlich aus seiner Starre. Er fing an zu lachen, so heftig, dass das ganze Bett unter ihm wackelte.

„Was?“, fragte ich ärgerlich. War das wirklich so schockierend?

„Juniper, ich hab dich doch nicht deswegen hierhergebracht“, sagte er, als er endlich mit seinem Lachanfall fertig war. „Ich will nur mit dir reden. Und dich was Wichtiges fragen. Nicht, dass ich dich nicht attraktiv finde …“ Er lächelte mir zu, und eine leichte Röte breitete sich auf seinen Wangen aus.

„Oh.“

Oh.

June …, sagte Star mitfühlend und machte es damit nur noch schlimmer.

Töte mich, Star. Bring mich auf der Stelle um.

Am liebsten hätte ich mir ein ganz tiefes Loch gegraben und mich für immer darin verkrochen.

Seufzend sah ich schließlich wieder zu Royce und versuchte, so würdevoll wie möglich mit meiner Blamage umzugehen.

„Du wolltest mich also was fragen?“

Er nickte und blickte für einen Moment nachdenklich vor sich hin. Die Belustigung verschwand aus seinen Augen. Dann stand er auf und drehte mir den Rücken zu.

„Ich habe keine Familie, Juniper. Und ich hatte auch kein Rudel mehr, bis Dayton … dein Vater … mich und meinen Bruder bei euch aufgenommen hat.“

Er verstummte. Plötzlich wirkte er ängstlich. Nervös tigerte er vor mir auf und ab und trommelte dabei mit den Fingern gegen seine Schenkel.

„Wir waren noch Kinder, als unsere Familie getötet wurde. Die haben unser ganzes Rudel abgeschlachtet. Dabei waren wir völlig unbedeutend, totale No-Names.“

Er hielt inne, und wieder herrschte Stille im Raum.

„Eigentlich wäre ich an dem Tag auch zu Hause gewesen, aber ich hatte mich verspätet.“

Mir brach es das Herz. Wie schrecklich musste es sein, wenn man nach Hause kam und alle Menschen, die man liebte, waren nicht mehr da?

„Wer hat das getan?“

Er schüttelte den Kopf, ein bitteres Lächeln im Gesicht. „Keine Ahnung. Das versuche ich immer noch herauszufinden.“

„Was hat dich dann hierherverschlagen?“

„Familie. Oder der Einzige, der noch davon übrig war. Ich hab rausgefunden, dass mein Bruder während des Angriffs flüchten konnte und hier Asyl gefunden hat.

Als dein Vater erfahren hat, wer ich bin, hat er mich bei euch aufgenommen. Das war kurz nach deinem Geburtstag. Offensichtlich hält er mich für so fähig, dass er mir die Führung des Rudels übergeben will, sobald ich alt genug bin.“

„Wieso dir?“, platzte es aus mir heraus. „Ich meine …“ Wieso akzeptierte mein Vater einen Fremden, aber nicht seine eigene Tochter?

„Ich stamme aus einer Blutlinie von Alphas. Mein Vater hat unser Rudel angeführt, und irgendwann hätte er die Führung dann mir übertragen.“

Er sah zögerlich aus oder so, als würde er mit sich ringen. Dann ging er zum Fenster hinüber und blieb davor stehen. Während er nach draußen starrte, glitt ein düsterer Ausdruck über sein Gesicht, zumindest soweit ich das erkennen konnte.

„Ich wollte nie Alpha sein.“

Das erstaunte mich. „Wieso nicht?“

„Ich hatte mich gerade halbwegs damit abgefunden, als mein Rudel ausgelöscht wurde. Ich wollte nie so viel Verantwortung haben, und ich will’s immer noch nicht. Das ist einfach nicht mein Ding.“

Ich versuchte, mich in seine Situation hineinzuversetzen. Als ich noch jünger war, vor meinem dreizehnten Geburtstag, hatte ich mir immer mal wieder vorgestellt, wie ich Anführerin meines Rudels sein würde und die Leute mit ihren Problemen zu mir kämen. Damals hatte mir diese Rolle Spaß gemacht.

Jetzt dagegen musste ich daran denken, wie viel Druck man als Alpha aushalten musste.

Allein der Gedanke daran schnürte mir die Kehle zu.

Royce wandte sich jetzt vom Fenster ab und setzte sich wieder neben mich. Verzweifelt sah er mich an.

„Es gibt einen Grund, warum ich dich finden wollte.“ Er fasste mich bei den Schultern.

„Juniper, ich möchte, dass du die Alpha von Litmus wirst. Diese Rolle steht dir von Geburt an zu. Und du solltest dir nehmen, was dir zusteht.“

Abwartend saß er neben mir, und es vergingen einige Sekunden, in denen ich nur vor mich hinstarrte. Ich war völlig durcheinander, und meine Gedanken rasten so schnell durch meinen Kopf, dass ich ihnen gar nicht folgen konnte.

Sag irgendwas, June.

Star. Sie fühlte sich natürlich geschmeichelt von seinem Vorschlag und den Komplimenten, die damit verbunden waren.

Es war tatsächlich mein Geburtsrecht. Nach dem Tod meines Großvaters hatte ich mir monatelang vorgestellt, wie ich meinen Vater vom Thron stürzen würde, um die Rolle einzunehmen, die mir zustand. Als Entschädigung für all das, was man mir und meiner Großmutter angetan hatte.

Ich fragte mich, wie es wäre, wenn mein Vater mich als Alpha akzeptierte; wenn er mich vielleicht sogar liebte.

Doch dann holte mich die Realität wieder ein.

„Ich kann das nicht.“

„Juniper …“

„Nein, Royce. Ich hab nicht das Zeug zu einer guten Alpha.“

Ruckartig befreite ich mich aus seinem Griff um meine Schultern und rutschte von ihm weg.

„Doch, Juniper, das hast du. Und auch wenn du das nicht erkennst Ich schon!“

„Aber ich hab mich noch nicht mal verwandelt! Nein, das geht nicht.“

„Du bist stärker als alle Alphas, die ich kenne. Und du brauchst dich nicht zu verwandeln, um das zu beweisen.“

„Du kennst mich doch gar nicht. Du willst bloß deine Verantwortung auf mich abwälzen“, warf ich ihm vor.

„Juniper, du bist was Besonderes. Das spüre ich. Du hast diese besondere Gabe … Und du hast Alphablut in deinen Adern. Du kannst das. Das weiß ich.“

Er klang verzweifelt, aber wieso? Royce würde ein guter Anführer sein. Sicher hatte er auch seine Macken, und ich kannte ihn zwar noch nicht lange, aber er war ein netter Mensch. Freundlich und verantwortungsbewusst, wenn man von der Ordnung in seinem Zimmer auf ihn schließen konnte.

Hatte er nicht genügend Selbstbewusstsein?

Vertraute er seinen Fähigkeiten nicht?

Hatte er Angst, das Rudel würde ihn nicht akzeptieren?

„Du bist doch auch stark. Genau so einen Alpha braucht das Rudel. Einen, zu dem sie aufschauen können“, versicherte ich ihm. „Nicht so jemanden wie mich.“

„Du hast eine andere Art von Stärke, aber das heißt nicht, dass du weniger fähig bist. Bitte, June. Nimm die Rolle an, für die du geboren wurdest.“

Ich hatte bereits, während er sprach, mit dem Kopf geschüttelt. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht.“

Er seufzte schwer und vergrub enttäuscht den Kopf in seinen Händen.

„Es tut mir leid. Ich gehe jetzt besser. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Royce.“

Damit stand ich auf und ging langsam in Richtung Tür. Ich weiß nicht, warum ich zögerte, aber wenn ich ganz ehrlich zu mir war, wollte ich, dass er mich aufhielt.

Doch das tat er nicht.

***

RudelmitgliedAlpha.
RudelmitgliedIch hab ein Mädchen im Wald gesehen.
RudelmitgliedIch glaube, es ist Juniper.
DaytonWo?
RudelmitgliedDraußen bei Royce.
RudelmitgliedSie verlässt gerade das Haus.
DaytonSag mir, in welche Richtung sie geht.

JUNIPER

Als ich aus der Hütte kam, war die Person, die ich gesehen hatte, gegangen. Ich konnte sie noch in einiger Entfernung erkennen. Sie ging gebückt den Feldweg hinunter, der als einziger hierherführte. Der Korb mit dem Gemüse lag umgekippt neben einer Kürbispflanze.

Das war seltsam, irgendwie beunruhigend, und ich sah zu, dass ich so schnell wie möglich nach Hause kam.

Der Weg zurück durch die Wälder war nicht annähernd so schön wie der Hinweg. Royces Angebot spukte mir immer noch im Kopf herum, aber ich stand zu meiner Entscheidung.

Ich war nicht die Alpha, die mein Vater wollte und die mein Rudel brauchte.

Das werde ich auch nie sein.

Du hast das Richtige getan, versicherte Star mir.

Ich weiß.

Er hatte allerdings auch recht: Wir beide sind stark, aber das hier ist einfach nicht unsere Bestimmung. Stars Worte taten weh und hinterließen einen schmerzhaften Stich in meiner Brust.

Wir sind für etwas viel Größeres bestimmt.

Aber wann passiert das endlich? Und wo? Ich hab einfach keine Lust mehr, ewig darauf zu warten. Du etwa? Und woher willst du das überhaupt wissen?

Nur so ein Gefühl, antwortete Star geheimnisvoll.

Wenigstens hatten sich die Wolken verzogen und die Sonne schien. Um mich herum war die Natur zum Leben erwacht, und mir wurde bewusst, wie sehr ich den Wald vermisst hatte.

Die Gerüche, das Grün, die Ruhe. Ich wusste, Star sehnte sich genauso danach. Wie alle Wölfe.

Wir werden bald frei sein, June.

Ihre Worte waren wie Balsam auf meiner Seele, und ich wünschte mir, sie wären wahr.

Als wir uns dem Haus näherten, überkam mich ein seltsames Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Ich spürte, wie Stars Nackenhaare sich aufrichteten, und ich wurde so unruhig, dass meine Hände unkontrolliert anfingen zu zittern.

Einen Moment lang hielt ich inne und suchte aufmerksam den Garten und den Wald mit Blicken ab. Ich strengte alle meine Sinne an, um irgendetwas zu entdecken, wartete noch eine Weile, aber das führte zu nichts.

Schließlich ging ich zur Hintertür und blieb zögernd davor stehen. Ich versuchte, irgendetwas Ungewöhnliches zu erschnüffeln oder Geräusche zu hören, die ein unwillkommener Gast verursachte.

Doch da war nichts.

Vorsicht, sagte Star warnend. Ihre Nackenhaare sträubten sich immer noch, und ich spürte, wie sie leise knurrte.

Als ich die Hand auf den Türknauf legte, wurde mein ungutes Gefühl noch stärker. Dann öffnete ich die Tür und ging ins Haus.

Mein Herz setzte einen Schlag aus.

Ich erstarrte.

Alles um mich herum verstummte.

„Juniper, willkommen zurück.“

Meine Eltern waren hier.

Mein Vater stand drohend vor meiner Großmutter, die auf dem Boden kniete, und auf ihren Kopf hatte er eine Pistole gerichtet.

Dieselbe Pistole, mit der er vor fünf Jahren meinen Großvater getötet hatte. Ich fragte mich, ob er die verfluchte Waffe noch mit denselben Patronen geladen und sie nur für diesen einen Tag aufbewahrt hatte.

In seinem Gesicht lag der gleiche grausame, furchteinflößende Ausdruck wie damals.

Mutter stand neben ihm, genauso kalt und gleichgültig wie immer.

Ohne es zu wollen, fing ich an zu weinen.

„Dad“, flehte ich.

Doch er verzog nur höhnisch das Gesicht.

„Du kannst dir sicher vorstellen, wie überrascht ich war, als ich hörte, dass ein Mädchen, das genauso aussieht wie meine Tochter“, er spuckte das Wort geradezu aus, „hier durch die Wälder streunt.“

„Bitte, Dad. Bitte tu ihr nichts.“

Ich machte einen Schritt auf ihn zu, aber sein wütendes Knurren stoppte mich.

„Ich lasse dir eine Wahl: Verschwinde von hier oder komm mit uns. In die Zelle.“

„Ich kann nicht von hier weg“, stammelte ich. Wenn ich ging, würde ich zu einer einsamen Wölfin werden. Zu einer Verstoßenen. Ohne die Fähigkeit, meine Gestalt zu wandeln, war das ein Todesurteil. Eine Entscheidung für die Zelle allerdings auch.

Das war eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

Und das fiese Grinsen in Vaters Gesicht ließ darauf schließen, dass er genau wusste, was er mir antat. Er hatte gewonnen.

„Dayton …“

Er schlug meiner Großmutter ins Gesicht, bevor sie den Satz beenden konnte. Sie wimmerte, fasste sich jedoch schnell wieder und starrte ihrem Sohn furchtlos in die Augen. Der presste ihr die Waffe an den Kopf und drehte sich wieder zu mir um.

„Und? Wofür entscheidest du dich, June?“

Nächstes Kapitel
Bewertet mit 4.4 von 5 im App Store
82.5K Ratings
Galatea logo

Eine unlimitierte Anzahl von Büchern, die süchtig machen.

Galatea auf FacebookGalatea InstagramGalatea TikTok