Midika Crane
Thea
Das Diner ist, seit ich ein kleines Mädchen war, ein besonderer Ort für mich.
Mit June nach der Schule Milchshakes zu trinken, war ein Ritual, und ich sagte den Damen am Tresen immer, dass ich hier arbeiten würde, wenn ich älter wäre. Zehn Jahre später lebe ich meinen Traum.
Nur ist der Traum kaum so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Manchmal ist es eher ein Albtraum.
"Vier Stunden zu spät?", fragt meine Chefin, Janet Dupree, die Arme über der Brust verschränkt. "Vier Stunden, die ich damit verbracht habe, deine Arbeit zu erledigen."
Ich sitze kleinlaut und mit gesenktem Kopf hinter ihrem Schreibtisch. Peinlichkeiten sind mir nicht fremd, aber die Blicke, die mir die beiden anderen Kellnerinnen zuwarfen, als ich hereinkam, reichten aus, um mich die weiße Fahne hochhalten zu lassen.
Janets Büro ist ein winziger Raum, der im hinteren Teil des Diners versteckt ist. Wir nennen es immer "Die Höhle", denn manchmal hält unsere Chefin darin Winterschlaf.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass man etwas Dummes tat oder gegen eine ihrer Regeln verstieß, mussten wir unter den Postern mit halbnackten Feuerwehrleuten sitzen, was die reine Folter war, vor allem, wenn Janet einem dabei noch einen Vortrag hielt.
"Dies ist eine offizielle Verwarnung. Das darf nicht wieder vorkommen."
Ich stehe auf und klopfe meine Uniform ab. Als ich jünger war, fand ich das staubige blassblaue Kleid mit der weißen Schürze um die Taille gebunden süß.
Aber jetzt gefällt es mir gar nicht mehr und die Highschool-Jungs machen es sich zur Aufgabe, wann immer möglich unter den hohen Rocksaum zu schauen.
Ich verlasse den Raum und gehe in die Küche, nachdem ich meiner Chefin eine halbherzige Entschuldigung zugemurmelt habe. Die anderen Kellnerinnen wuseln herum, eine an einem Tisch, eine andere wischt die Haupttheke.
Wir haben einen Koch, der tagsüber arbeitet, aber wir reden normalerweise nicht miteinander, weil er ein ziemlicher Pessimist ist.
"Was ist passiert, Süße?", fragt die Kellnerin am Tresen - meine gute Freundin Kera - und hört auf zu wischen.
Großbusig, fast zu freundlich und mit ihren geweißten Zähnen präsent, arbeitet Kera schon so lange hier wie ich.
Ihre Augen sind etwas, worauf ich schon immer neidisch war; das klarste Kristallblau, wie nichts, was ich je gesehen habe. Sie ist vom Wisdom-Rudel, also natürlich sehr klug und schön.
"Ich war einfach zu spät", sage ich fade, greife mir mein Namensschild aus dem dafür vorgesehenen Regal und lege meinen Mantel an seinen Platz. Kera verdreht die Augen und wirft sich ihr Wischtuch über die Schulter, während sie zu mir herüberschlendert.
"Ich sehe doch, das etwas los ist, Süße." Sie grinst und stützt einen Ellbogen auf die Bank, an der Cook gearbeitet hat. Wir nennen ihn einfach Cook, weil er sich weigert, uns seinen richtigen Namen zu nennen. "Willst du mir sagen, warum?"
Ich schiebe mich an ihr vorbei und gehe in den Speisebereich. Ich bleibe hinter der Theke stehen und halte Ausschau nach Tischen, die vielleicht Hilfe brauchen.
Nur ein Tisch ist besetzt und Britney, die andere Kellnerin, scheint alles im Griff zu haben.
"Jemand ist in das Anwesen im Phantomwald eingezogen", erzähle ich ihr und stoße einen genervten Seufzer aus. Kera ist hinter mir aufgetaucht, ihre Augen sind geweitet.
Ich habe das Anwesen nie gesehen, aber ich habe davon gehört. Dad sagte mir, ich solle nie ~in den Wald gehen, und nachdem ich meinen Glauben an Phantomwölfe bestritten hatte, sagte er, es sei Privatbesitz.
"Wer?" Kera dreht ihren Körper so, dass sie mir in die Augen sehen kann. Sie weiß, wie ihre Augen immer die ehrlichsten Antworten aus mir herauslocken. Fast so wie die von Casper ...
"Ein Mann", sage ich vorsichtig. Ihr Mund bleibt vor Überraschung offen stehen. Kera hat weder ihren Gefährten noch einen Mann gefunden, der ihre feurige Persönlichkeit im Zaum halten kann.
Sie interessiert sich erstmal für jeden Mann, der sie anschaut, bevor ihr ein neuer Kerl über den Weg läuft.
Ich drehe mich um und versuche, einen ruhigen Gesichtsausdruck zu bewahren, aber innerlich mache ich mir Vorwürfe. Luca wird mehr als wütend auf mich sein, weil ich ihn im Stich gelassen habe.
Und anstatt mich in Schuldgefühlen zu suhlen, wie ich es tun sollte, rede ich über einen anderen Kerl.
"Ist er heiß?", fragt Kera und schubst mich sanft an der Schulter, damit ich mich ihr zuwende. Warum nicht ehrlich sein?
"Sehr. Groß, heiß, sexy, und seine Augen sind zum Sterben schön ..."
Plötzlich lässt mich das Geräusch eines Räusperns hinter mir wieder herumwirbeln. Ich begegne den Augen, denen ich gerade noch ein Kompliment machen wollte.
Schon wieder fallen mir die gutaussehenden Gesichtszüge auf, die zu diesem Fremden gehören, Casper. Er ist anders gekleidet ... leger.
Er trägt nun ein einfaches schwarzes Hemd und eine dunkle Hose, die Hände in die Taschen gesteckt. Er starrt mich durch seidiges schwarzes Haar an, das ihm über die Stirn streicht, ein amüsiertes Lächeln tanzt über sein Gesicht.
Hat er das etwa gehört? Ein Gefühl völligen Grauens überkommt mich, während ich mich mit der Peinlichkeit auseinandersetze, die sich in der Farbe meiner Wangen zeigt.
"Thea", murmelt er, mein Name rollt verführerisch von seiner Zunge, vermischt sich mit seinem Akzent und lässt meine Hände an meinen Seiten zittern. Ich bin völlig außer Atem, aber Kera auf der anderen Seite ...
"Ich muss sagen, wir sind es nicht gewohnt, Fremde in unserer Nähe zu haben. Vor allem keine so gutaussehenden", sagt Kera, und ihre Stimme trieft vor Zuversicht.
Sie drängt sich neben mich, lehnt sich neckisch über die Theke und zeigt Casper unverhohlen ihr Dekolleté.
Seine Augen bohren sich immer noch in meine, wie Eissplitter. Das Violett macht seinen Blick so viel intensiver. Er würdigt Kera kaum eines Blickes.
Jeder andere Mann hätte sich sofort von der schönen Frau, verführen lassen.
"Ich schaue mir die Stadt an. Eine Dame in einem Second-Hand-Laden hat mich hierher gelotst. Sie erzählte mir, dass hier ein schönes Mädchen arbeitet", sagt er sanft, ohne Zögern in seinen Worten.
Ich werfe einen Blick auf Kera (der klar geworden ist, dass der Trick mit ihren Brüsten nicht funktioniert) und stehe aufrecht. Ich weiß, dass es wahrscheinlich Ms Slater und Ms Morris waren, die ihn hierher verwiesen haben.
Es war entweder für Britney oder Kera, da ich die Einzige bin, die in einer Beziehung ist.
"Dann such nicht weiter", schnurrt Kera, und ich glaube, sie zwinkert sogar, als Casper sie endlich ansieht.
"Wir haben auch tolles Essen", füge ich hinzu und trete einen Schritt zurück. Ich bücke mich und greife nach einer Plastikkarte, die wir unter der Theke aufbewahren, um sie ihm zu reichen. Er nimmt sie und ein einfaches "Danke" ist seine einzige Erwiderung.
Dann dreht Casper sich um und geht los, um einen Tisch zu finden.
In dem Moment, in dem er sich entfernt hat, kommt Britney auf uns zu, nachdem sie endlich die Kunden an ihrem Tisch bedient und sie mit verführerischen Worten dazu verleitet hat, ihr ein großzügiges Trinkgeld zu geben.
"Lecker ... wer ist das?", fragt sie und reißt ein Stück Papier mit Worten darauf von ihrem Block.
Britney ist ein süßes Mädchen. Sie versucht, sich von diesem Rudel freizukaufen, so wie ich, und manchmal kann sie ein bisschen wetteifernd werden, was das Trinkgeld angeht.
Ihr Haar ist eine hellere Version dessen, was wir typischerweise an den Haaren der Frauen sehen. Wenn sie es hochbindet, wie heute, kann man das Gold in ihrem Haar sehen.
"Ja, wer ist das, Thea?", fragt Kera. Beide Mädchen schauen mich erwartungsvoll an.
Ich nehme Britney den Zettel mit den Bestellungen ihrer Kunden aus der Hand und schiebe ihn zu Cook hinüber. "Ich weiß es nicht. Ich glaube sein Name ist Casper."
Bei der Erwähnung seines Namens springen sie fast auf. So, wie ihre Augen glänzen und aufgrund der Tatsache, dass sie beinahe anfangen zu sabbern, beschließe ich, ihnen nicht zu sagen, dass er der Grund ist, warum ich so spät zur Arbeit gekommen bin.
Plötzlich bimmelt oben an der Tür eine Glocke und signalisiert einen neuen Kunden. Nur ist es kein Kunde. Es ist Luca.
Mit entschlossenem Blick schlendert er hinein. Gekleidet in seine dunkle Gesetzeshüter-Uniform, sieht er gefährlich offiziell aus, und umso einschüchternder.
Mit so jemandem sollte man sich besser nicht anlegen.
Er fängt meinen Blick auf und seine dunkle Augen sind wild vor Emotionen, wie ein tosender Sturm.
"Wo bist du gewesen?", fragt er wütend, seine Stimme ist so laut, dass sie die Aufmerksamkeit aller im Raum auf sich zieht. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.
Ich wünsche mir nichts mehr, als mich vor jedermanns neugierigen Blicken zu verstecken. Unsere Beziehung vor neugierigen Blicken zu verstecken.
"Ich war zu spät zur Arbeit", sage ich kleinlaut, während er näher kommt, bis er den Tresen erreicht.
Er verengt seine Augen auf mich, als ob er glaubt, ich würde etwas Illegales tun.
"Ich habe überall nach dir gesucht ... ich habe bei June nachgesehen, in deinem Haus, in der ganzen Stadt", erzählt er.
Daran bin ich gewöhnt. Nicht nur an seine Wut, sondern wie er mir die Schuld gibt und sich selbst zum Opfer macht.
Ich schaue mich um und sehe die Augen aller auf mich gerichtet. Aber es sind die von Casper, an denen ich hängen bleibe. Er starrt mich an, eine unbekannte Emotion flackert in seinen Augen. Dann richtet er seine Aufmerksamkeit auf Luca, und ich sehe Wut.
Reine, dicke Wut, die er nicht zurückhalten kann. Plötzlich steht er abrupt auf.
Und ich weiß, die nächsten Momente werden die Hölle sein.
"Ich denke, du solltest aufhören", sagt Casper, seine Stimme ist tiefer, beherrschter als die von Luca.
Luca wird von einer anderen Art von Wut angetrieben. Seine ist direkt da, in deinem Gesicht. Er kann sich offenbar nicht zurückhalten.
Casper scheint seine eigenen Gefühle in gewisser Weise zu verstehen, er zeigt nicht den geringsten Anflug von Schwäche.
"Ich wüsste nicht, dass dich das etwas angeht", zischt Luca, dessen Augen vor feurig heißer Leidenschaft glühen.
Ich kann nicht anders, als fassungslos dazustehen. Warum setzt Casper sich so für mich ein? Er kommt näher, die Hände immer noch lässig in den Hosentaschen, als er vor Luca stehenbleibt.
Seine lockere Haltung ist wie eine offene Einladung, ein Angebot, alles mit ihm zu versuchen. Ich möchte nicht wissen, was die Konsequenz für Luca sein würde.
"Nun, Officer ..." Casper beugt sich ein wenig hinunter und schaut auf das Namensschild, das an Lucas Hemd gepinnt ist. "Luca. Ich denke, es ist nicht sehr professionell, in der Öffentlichkeit eine Dame anzuschreien."
Das kommt bei Luca gar nicht gut an. Sein Job ist sein Leben. "Geh einen Schritt zurück, Kumpel. Gib mir keinen Grund, dich zu verhaften."
Casper lächelt. Ein sanftes, spöttisches Lächeln. Es ist ruhig, genau. Er weiß, was er tut, und wie weit er Luca treiben kann.
"Es wäre mir ein Vergnügen, dich auf die Wache zu begleiten.
"Ich bin sicher, dein Vater wäre froh zu hören, dass du deine Freundin nicht einmal mit deinem Namen auf den Lippen zum Höhepunkt bringen kannst", sagt Casper beiläufig und nimmt seine Augen nicht ein einziges Mal von Luca, um mich anzuschauen.
Wieder bin ich schockiert. Jeder im Diner hört nun zu, und ich bin sicher, dass die Kellnerinnen hinter mir sich über solche Informationen freuen. Sofort werde ich knallrot. Das ist mir peinlich.
Weil es wahr ist.
Luca hat mir seit einem Jahr keinen Orgasmus mehr verschafft und ich bin mittlerweile ziemlich gut darin, ihn vorzutäuschen. Ich bin mir nicht sicher, warum, aber unser Funke ist erloschen.
Er hat sich in Luft aufgelöst, und manchmal denke ich, wir tolerieren uns einfach nur.
Er ist nicht mein Gefährte. Das sagt mir mein Dad auch immer wieder. Jeden Tag sagt er mir, dass ich warten soll, anstatt mit einem Mann ins Bett zu gehen, dessen Gefährtin vielleicht gleich um die Ecke ist. Aber es ist leicht, ihn zu lieben.
Es ist leicht, ihn mein zu nennen, ihn da zu haben.
Lucas Gesicht ist genauso rot wie meines. "Einen Beamten zu belästigen ist eine Straftat."
Casper tritt zurück, und ich stoße fast einen Seufzer der Erleichterung aus. Ich denke schon fast, dass er aufgibt und Luca gewinnen lässt, aber stattdessen beginnt er, ihn zu umkreisen.
Er macht ein paar sanfte, elegante Schritte um meinen Freund herum, wie eine Bestie, die ein kleines Tier erbeutet.
"Versuch doch dein Glück und lege mir Handschellen an." Casper klingt nun bedrohlich. Er ist kein kleiner Mann und mit seinem muskulösen Körperbau ist er eine Bedrohung für Luca.
Und der kleinere Mann weiß das. Sich mit Casper anzulegen wäre nicht sonderlich klug für ihn. Ich schüttle den Kopf bei dem Gedanken.
Plötzlich meldet sich eine Stimme von seltsamer Vernunft. "Hört sofort auf."
Casper erstarrt. Und Luca auch.
"Ich muss euch beide bitten, mein Diner sofort zu verlassen", sagt Janet, mein Boss.
Und beide Männer wissen sofort, dass sie der Frau, der der Laden gehört, nicht widersprechen können. So gehorsam, wie ich Luca noch nie gesehen habe, dreht er sich um und geht geradewegs aus dem Gebäude, sein Stolz ist ein wenig verletzt.
Casper entschuldigt sich bei Janet, gibt mir seine Speisekarte zurück und geht ebenfalls.
Ich bin völlig verwirrt. Was ist hier gerade passiert?