Das unmoralische Angebot - Buchumschlag

Das unmoralische Angebot

S.S. Sahoo

Lügennetz

ANGELA

Nachdem ich zuhause kochendheiß geduscht hatte, fühlte ich mich immer noch schmutzig. Ich konnte nicht glauben, wie Xavier mit mir gesprochen hatte, dass er dachte, ich sei hinter seinem Geld und dem Familienruhm her.

Allein beim Gedanke daran, jemanden so zu benutzen, wurde mir übel. Und trotzdem glaubte er, dass ich genau diese Art von Mensch war.

In diesem Moment wurde mir die Ironie an der ganzen Sache klar. Ich war hinter seinem Geld her. Wenn ich nicht hoffte, dass die Knights die Behandlungen meines Dads zahlten, hätte ich niemals zugestimmt, Xavier zu heiraten.

Ich betrachtete das eingerahmte Bild auf dem Bücherregal. Es war ein Foto von mir, Lucas, Danny und meinem Dad. Er sah so gesund aus. Wir hatten es letztes Thanksgiving aufgenommen. Wir vier hatten einen Truthahn zubereitetet und uns das Footballspiel angesehen. Ganz ohne uns um die Zukunft zu sorgen.

Ein paar Wochen später hatte Dad die Diagnose ALS bekommen. Der Arzt hatte uns gesagt, dass jeder anders auf diese Krankheit reagierte, dass Dad vielleicht einer von denen sein könnte, der erst im hohen Alter starke Symptome zeigen würde. Wir waren optimistisch.

Aber innerhalb eines Monats verlor Dad das Gefühl in den Händen und Füßen. Seine Beine gaben allmählich nach. Und dann verlor er seinen Führerschein. Das war hart für ihn. Er war immer derjenige gewesen, der die Verantwortung getragen, der alles unter Kontrolle gehabt hatte, und plötzlich war er auf seine Kinder angewiesen.

Jetzt, ein Jahr später, stand Thanksgiving wieder vor der Tür. Nach dem Schlaganfall und dem Herzinfarkt war Dad wieder zu Hause. Das Krankenhaus hatte ihn entlassen, nachdem er für einige Tage stabil gewesen war.

Ich konnte nicht glauben, wie viel sich in einem Jahr verändert hatte. Ich wohnte nicht mehr in Heller, der kleinen Stadt in New Jersey, in der wir geboren wurden.

Ich lebte jetzt in New York City. Hier konnte meine Familie mich nicht rund um die Uhr nerven, was nicht leicht für mich war.

Dad hatte die meiste Zeit meines Lebens die Rolle beider Elternteile übernommen. Wir hatten Mom verloren, als wir klein waren, deshalb war er derjenige, der für uns da war. Und er war immer für uns da.

Aber jetzt war er krank und ich konnte nichts daran ändern.

Doch, es gibt etwas, erinnerte ich mich selbst. Und das tust du.

Auch wenn das stimmte, fiel es mir schwer, es zu glauben. So wie das Sprichwort aus meiner Kindheit: Unrecht und Unrecht ergibt kein Recht.

Ich fragte mich, ob das Unrecht, Xavier zu benutzen, ein weiteres Unrecht zu dem war, dass mein Dad krank war. Ich war nicht wirklich ein spiritueller Mensch, aber ich fragte mich, ob Dad dieser Deal schaden würde.

EmBist zu Zuhause?
EmHeute Abend Sushi?
AngelaHab was mit meinen Brüdern vor ☹️

Ich hatte nichts mit meinen Brüdern vor, aber es war die erste Ausrede, die mir eingefallen war. Natürlich fühlte ich mich schlecht, Em so anzulügen.

Vor allem weil morgen Thanksgiving war und ich zu Dad nach Heller fuhr. Und ganz besonders nach allem, was sie für mich getan hatte, seit dem ich in die Stadt gezogen war. Sie war erst drei Monate vor mir hierhergezogen, um ihren Blumenladen zu eröffnen.

Ich war immer schon ein introvertierter Mensch gewesen. Em war die Erste außerhalb meiner Familie gewesen, die mich verstanden hatte. Wir waren seit unserem dreizehnten Lebensjahr unzertrennlich, deshalb hatte es mir Angst gemacht, als sie so weit weggezogen war.

Doch nach all dem, was in Heller bei meinem alten Job passiert war, musste ich da raus. Also bot Em mir ihr freies Zimmer und einen Job in ihrem Blumenladen an.

Ich hatte ihr alles zu verdanken. Sie war immer für mich da gewesen, weshalb es diese Situation noch schlimmer machte.

Denn ich wusste, ich würde sie anlügen müssen, so stand es im Vertrag, und ich war mir nicht sicher, ob ich es ertragen könnte.

Und auch wenn ich tatsächlich lügen würde, wenn ich sagen würde, ich hätte Xavier zufällig kennengelernt und wir hätten uns sofort ineinander verliebt, war ich mir nicht sicher, ob ich mir eine glaubhafte Geschichte einfallen lassen konnte. Nicht so gedemütigt und verletzt, wie ich mich gerade fühlte.

Deshalb schob ich eine Ausrede vor, um nicht lügen oder den Vertrag brechen zu müssen. Dann warf ich eine Kapuzenjacke über, schlüpfte in meine Turnschuhe und joggte eine Runde.

***

Dannyvergiss den kuchen nicht
AngelaKomm schon
AngelaGlaubst du ich vergesse den?
Dannynyc verändert menschen
AngelaNicht mich
AngelaHab den Kuchen dabei
AngelaBin bald da

Heute war Thanksgiving. Dad hatte uns versichert, dass es ihm gut genug ging, um das Essen bei ihm zuhause zu machen. Meine Brüder sagten immer wieder, wie viel besser er aussah, und ich konnte es kaum erwarten, ihn selbst zu sehen. Ich konnte es nicht erwarten, sie alle zu sehen.

Ich saß im Zug nach Heller, und während ich aus dem Fenster sah, wurde mir bewusst, wie erleichtert ich war, New York zu verlassen.

Auch wenn es nur für ein paar Tage war, glaubte ich, dass es mir gut tun würde, das Drama wegen der Vereinbarung hinter mir zu lassen. Ich könnte durchatmen und mir überlegen, wie es mit meinem Leben mit dem Vertrag weitergehen sollte.

Als ich aus dem Fenster starrte, sah ich nur Bäume. Es war eine willkommene Abwechslung zum hektischen Chaos der Stadt, den unzähligen, gesichtslosen Menschen und dem stetigen Lärm. Zum ersten Mal seit langem fühlte ich, wie eine Art Ruhe einsetzte.

Ich klopfte an die Tür, Danny öffnete sie, und zog mich in eine ungestümen Umarmung. Danny war nur ein Jahr älter als ich und wir hatten uns immer schon sehr nah gestanden. Das Gleiche wie bei Em galt auch für Danny: wenn ich ihm nicht von der Hochzeit erzählen konnte, würde ich ihm einfach gar nichts erzählen.

Ich wollte nicht lügen und sagen, dass es eine Halsüberkopfliebe war, dass ich so sehr in Xavier Knight verliebt war, dass ich nicht anders konnte, als ihn eine Woche, nachdem wir uns kennengelernt hatten, zu heiraten.

Deshalb entschied ich mich, meinen Mund zu halten. Außerdem, auch wenn ich in der Lage gewesen wäre, zu lügen, wusste ich, dass Danny mir kein Wort geglaubt hätte.

„Du riechst nach Zug“, sagte er, während er mich ins Haus zog und mir die Schachtel aus der Hand nahm. Ich hatte Pekanusskuchen mitgebracht. Den mochte Danny am liebsten.

„Schön, auch dich zu sehen“, entgegnete ich und streckte die Zunge raus.

Und dann war ich in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Das Haus, in dem ich genauso oft gefeiert wie getrauert hatte.

Hier hatten Em und ich nicht-jugendfreie Filme in den DVD-Player geschmuggelt. Danny und ich hatten Kissenburgen gebaut und Nutella aus dem Glas genascht. Nach allem, was passiert war, fühlte es sich anders an, wieder hier zu sein.

„Ist sie das? Angie?“ Und dann war er da. Er rollte in einem Rollstuhl in den Flur. Er sah Dad viel ähnlicher als der Mann, der im Krankenhausbett gelegen hatte.

„DAD!“ Ich machte einen Satz auf ihn zu und umarmte ihn fest.

„Schon gut, Angie. Ich bin hier“, sagte er lachend. „Ich habe nicht vor, woanders hinzugehen, meine Kleine. Es sei denn, du rollst mich.“

„Ich weiß“, erwiderte ich lachend und konnte nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen stiegen. „Ich bin einfach froh, dich zu sehen. Du siehst großartig aus.“

Es stimmte. Seine Wangen hatten wieder Farbe, seine Augen waren lebendiger und er trug sogar ein Hemd.

Dads Outfit wechselte schon immer zwischen Jeans und T-Shirt und Jeans und Karohemd. Er war sein ganzes Leben im Restaurantgeschäft tätig gewesen.

Während seine Konkurrenten versuchten, sich für Gäste nett anzuziehen, indem sie Anzug und Krawatte trugen, waren meinem Vater schon immer das Essen und die entspannte Atmosphäre wichtiger gewesen als die Fassade. Deshalb liebte ich ihn so sehr.

„Bist du bereit für den Truthahn?“

„Wen meinst du? Lucas?“, scherzte ich.

„Das habe ich gehört“, rief Lucas aus dem Wohnzimmer, wo er wie immer gebannt auf den Fernseher starrte, auf dem das Footballspiel lief.

Lucas war drei Jahre älter als ich. Er und Danny waren Dad ins Restaurantgeschäft gefolgt und hatten beide die extrovertierte, gelassene Art von meinem Dad geerbt.

Ich dagegen war immer eher ruhig gewesen. Meine Entscheidung, Ingenieurwesen zu studieren, war keine große Überraschung für sie gewesen. Ich war immer schon lerneifrig gewesen und machte mir gern die Hände schmutzig.

Zurück in der Küche gab Dad etwas Salz in einen Topf auf dem Herd, in dem etwas kochte, und dann rollte er zum Kühlschrank.

„Komm her, Kleine“, sagte er und reichte mir ein Bier. „Du und ich müssen etwas besprechen.“

„Was ist los?“ Ich nahm einen Schluck.

Dad sah mich an, als wartete er darauf, dass ich etwas sagte. Und ich betete, dass er nicht irgendwie von der Vereinbarung erfahren hatte.

„Dein Bruder hat mir erzählt, dass du immer noch bei Em arbeitest.“ Er starrte mich an und ich atmete aus. „Du hast einen Harvardabschluss, Angela. Mit Auszeichnung. Du bist Ingenieurin. Erklärst du mir, warum du dann Rosen verkaufst?“

„Es ist nur vorübergehend“, erklärte ich. „Ich schreibe immer noch Bewerbungen. Ich habe noch nichts gefunden, aber ich weiß, dass ich etwas finden werde.“

Ich wollte ihm nicht erzählen, dass ich den Job bei Curixon nicht bekommen hatte. Ich wollte kaum selbst an die Absage denken, geschweige denn mich jeder Menge Fragen und mitleidiger Blicke aussetzen.

„Du weißt, dass du immer nach Hause kommen kannst. Dennis von der Autowerkstatt hat für dich immer eine Stelle als Mechanikerin.“ Er sah mich besorgt an, und ich wusste, dass er mich vor einem Jahr noch nicht so angesehen hätte. Bevor das mit meinem alten Job passiert war.

„Dad, mir geht es gut. Ehrlich.“

Er rollte zu mir, gab mir zu verstehen, mich vorzubeugen und küsste mich auf die Wange.

„Wie geht es dir?“, fragte ich, in der Hoffnung das Thema wechseln zu können.

„Ich dümpel so vor mich hin, wie du siehst. Die Ärzte haben gesagt, dass es ziemlich beeindruckend ist, wie gut ich mich erholt habe. Dass sie das nicht oft sehen.“

„Das ist toll.“

„Naja. Ich strenge mich nicht an und mache langsam. Ich lass die Finger von Whiskey und Brathähnchen, so wie sie es gesagt haben.“

„Gut.“

„Für dich?“

„Für dich“, sagte ich und er lächelte.

„Was für ein Leben. Ich darf Wasser trinken und stecke in diesem Ding fest.“ Er zeigte auf den Rollstuhl.

„Ich finde, er steht dir ausgezeichnet.“

„Du weißt, dass ich darin alt aussehe“, sagte Dad und rollte in Richtung Flur. „New York macht dich zu tolerant!“, rief er, bevor er im Badezimmer verschwand.

Ich wollte gerade etwas zurückrufen, als Lucas in die Küche kam, was seltsam war. Er verließ nie den Fernseher, wenn das Spiel lief.

„Hey, Angie“, sagte Lucas, während er auf sein Handy sah.

„Ja …?“

Er sah immer noch auf sein Handy. Dann drehte er es zu mir, damit ich sehen konnte, was ihn so verwirrte.

Mir blieb die Luft weg. Da war es. Oder besser gesagt, da war ich.

In meinem eleganten, weißen Spitzenkleid neben meinem Verlobten in seinem schwarzen Anzug. Wir lächelten uns an, als hätten wir überhaupt keine Sorgen. Der Himmel zur magischen Stunde und die erleuchteten Bäume im Hintergrund.

„Kannst du das erklären?“

„Was erklären?“, fragte Danny, als er in die Küche zurückkam, um sich ein Bier zu holen.

Lucas gab ihm sein Handy und Dannys Mund flog auf.

„Was zum … Angie?“

Ich spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht verschwand. Beide starrten mich an. Ich konnte mich nirgends verstecken, nicht weglaufen.

So viel dazu, die Knights in New York hinter mir zu lassen.

„Ist das echt?“, fragte Lucas.

„Ich heirate“, sagte ich.

„Jetzt mal langsam. Du heiratest einen Knight?“, fragte Danny ungläubig. „Fuck! Woher kennst du den Typen überhaupt?“

„Ich glaube, das ist ein Streich. Ich glaube, sie verarscht uns.“

„Ich verarsche euch nicht.“ Ich sah von Lucas zu Danny. Ihre Gesichter waren ernst.

„Du musst uns einiges erklären“, sagte Danny. Dann hörten wir die Badezimmertür. Dad würde jeden Moment herauskommen.

„Das werde ich. Ich erkläre alles. Aber bitte … bitte erzählt es noch nicht Dad“, flehte ich sie an. „Ich will es ihm selbst sagen. So wie ich es will.“

Nachdem Lucas kurz darüber nachgedacht hatte, nickte er. Dann öffnete sich die Badezimmertür und Dad rollte zurück in die Küche – ich starrte Danny an, der mir noch keine Antwort gegeben hatte.

„Wer hat Lust auf Truthahn?“, fragte Dad auf dem Weg zum Ofen. Er lugte hinein. „Scheiße! Verdammt! Ich glaube, er ist verbrannt!“

Lucas stellte schnell den Ofen ab und nahm den Truthahn vorsichtig raus.

„Man weiß nie, was passiert, wenn man auch nur eine Minute nicht aufpasst, nicht wahr?“, fragte Danny. Aber ich wusste, dass seine Frage rhetorisch gemeint war.

Ich wusste, damit meinte er mich.

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